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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Toter Mann

Ein Sprung vom Zehn-Meter-Turm ins Schwimmbecken wäre für mich als Kind niemals in Frage gekommen. Selbst vom Fünf-Meter-Brett wählte ich einst den schmachvollen Rückzug. Vorne angekommen hatte mich beim Blick in die Tiefe der Mut verlassen. Drei Meter, das war das höchste der Gefühle. Und jetzt soll ich freiwillig in diese Gletscherspalte auf dem Hangender Ferner rutschen, deren breiter Schlund nicht zu übersehen, deren Tiefe ich aber nicht abschätzen kann? Kneifen gilt nicht, wäre auch schwer nachvollziehbar. Schließlich bin ich genau deshalb ins Tiroler Pitztal gereist. Der Spaltenbergungskurs gehört zu meiner Vorbereitung auf die Expedition zum Siebentausender Putha Hiunchuli, zu der ich Ende September aufbrechen werde.


Übung macht den Meister

Seltsamer Humor

Auf der Braunschweiger Hütte hat Bergführer Hans Miller uns – Nina und Thomas aus Berlin, Jan-Ole und Michel aus Eckernförde, Kai aus Mannheim, Stefan aus Böblingen und mir – am Morgen noch einen Blitzkurs in Knotenkunde gegeben: Sackstich, Ankerstich, einfacher und gesteckter Achter, Mastwurf, Halbmastwurf, einfacher und gesteckter Prusik.
Für Hans, 69 Jahre altes Tiroler Urgestein, sind die Knoten so selbstverständlich wie das Essen mit Messer, Gabel und Löffel. Mir gehen sie bei weitem nicht so leicht von der Hand. Wie war das noch? Drüber legen, hinten herum, wieder nach vorne, und dann? Mir schwirrt der Kopf. Vielleicht auch deshalb, weil ich gestern noch auf 50 Meter Meereshöhe gefrühstückt, heute aber, nach einer schlecht geschlafenen Nacht, auf 2759 Metern? Nein, die Ausrede wäre zu billig. „Ihr hoabst jo alle des Büchlein zum Noachschaun“, beruhigt uns Hans.


Die Spalte

Jetzt sitze ich hier am Rand der Gletscherspalte, und niemand hat noch einmal „des Büchlein“ ausgepackt, um sich zu vergewissern. Ich soll also mein Leben diesem stinknormalen Eispickel anvertrauen, den wir eben dreißig Zentimeter tief ins Eis eingegraben und mit einer Bandschlinge versehen haben. Der Bergsteiger, der diese Sicherung „Toter Mann“ getauft hat, muss einen seltsamen Humor gehabt haben.

Der Hans, der kann\’s

Nina und Thomas sind wirklich nett. Mit ihnen ein Bier zu trinken oder auch zwei, macht Spaß. Aber das hier hat eine ganz andere Qualität. Die beiden sollen mich gleich aus diesem Loch herausziehen. Ich muss mich ihnen ausliefern, bedingungslos. Wirkten Nina und Thomas heute morgen nicht ähnlich verkatert wie ich? Haben sie richtig aufgepasst? Sie klettern in Berlin regelmäßig in der Halle, versuche ich mich zu beruhigen. Warum stelle ich mich eigentlich so an?
Die beiden haben mir ihr Vertrauen bereits geschenkt, als sie sich nacheinander in die Spalte plumpsen ließen. Tatsächlich war es mir auch gelungen, mich zu konzentrieren, auf meiner jeweiligen Position das Gelernte umzusetzen und mit vereinten Kräften das Opfer wieder ans Tageslicht zu befördern. Und schließlich ist da ja noch der Bergführer, der uns genau auf die Finger sieht. „Der Hans, der kann’s“, denke ich noch. Dann rutsche ich über die Kante ins Nichts.


Weit nach unten

Herz in der Hose

Drei, vier Meter tiefer bremst das Seil meinen Fall. Mein Puls beruhigt sich, ich blicke mich, im Gurt sitzend, um. Die Eiswand ist fast senkrecht. Hier käme ich ohne Hilfe nie und nimmer heraus. Unter mir gähnt ein Abgrund von noch einmal rund zehn Metern. Seitlich senkt sich die Spalte noch weiter ab.
„Leiteln (Leute), passt’s auf eure Sachen auf! Was runter fällt, bleibt unten“, hat uns Hans eingeschärft. Vorsichtig mache ich ein paar Bilder, packe mein Mikrofon aus, zeichne ein paar Eindrücke auf (könnt ihr unten nachhören), um dann wieder alles sicher im Anorak zu verstauen. Kalt ist es in meinem eisigen Verlies. Schnell bereue ich, dass ich die Handschuhe oben gelassen habe, um besser fotografieren zu können.
Plötzlich sacke ich noch einen halben Meter weiter ab. Mein Herz rutscht um die gleiche Distanz in die Hose. Dann erinnere ich mich: Jetzt haben meine Retter das Seil, an dem ich hänge, im „Toten Mann“ verankert. Also alles im grünen Bereich.


Selbstporträt eines gequält Lächelnden

Über und in der Spalte

Blass um die Nase

Von dem, was oberhalb der Kante geschieht, höre ich nichts. Ich bin allein in der Spalte – mit mir und meinen Ängsten. Machen die da oben alles richtig? Wie lange dauert das denn noch? Was passiert, wenn ich auf den Spaltengrund heruntersause? Nach ein paar Minuten, die mir endlos erscheinen, blickt Nina lächelnd über den Spaltenrand: „Hallo, Stefan!“ Sie lässt mir den Karabiner herunter, ich klinke mich ein. „Hau – ruck!“, ertönt es von oben. Bei „ruck“ ruckle ich einen halben Meter höher.
Nach einigen Zügen krabble ich auf die Eisfläche – heilfroh, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben. „Du siehst ein bisschen blass um die Nase aus“, stellt Nina fest. Beim zweiten Ausflug ins Innere des Gletschers wenig später verliere ich schon weniger Gesichtsfarbe. Aber mein neues Hobby wird das Spalten-Hopsen sicher nicht. Besser ist, wenn du draußen bleibst.


Nina=Rettung naht

Datum

12. Juli 2011 | 10:33

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