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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Herr Lehmann

Herr Lehmann war nicht zu übersehen. Mit seiner Körpergröße von 1,90 Meter überragte der frühere Torwart der deutschen Fußball-Nationalmannschaft die meisten Teilnehmer beim „Weißen Ring“ in Lech, dem laut Guinness-Buch der Rekorde längsten Skirennen der Welt.


Herr Lehmann war V 49

Jens Lehmann startete im Prominenten-Team einer Automarke, deren Fabrikate ich mir in diesem Leben nicht mehr werde leisten können. Ja, ich wollte schneller sein als der 41 Jahre alte Ex-Nationalkeeper, der das Fußballtor gegen die Tore auf der Ski-Rennpiste eintauschte. Ein Funke Ehrgeiz blitzte wieder auf.

Wie ein Anfänger

Noch am Vortag war mein Übermut wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt, angestoßen von blanker Panik: Ich hatte das Skifahren verlernt! Als ich am Freitagnachmittag die 22 Kilometer lange Strecke auf dem „Weißen Ring“ getestet hatte, war ich mir wie ein Anfänger vorgekommen. Die Piste präsentierte sich in einem erbärmlichen Zustand. Mitten im Januar war am Arlberg der Frühling ausgebrochen. Das Thermometer zeigte im Startbereich am 2362 Meter hohen Rüfikopf unglaubliche drei Grad, im Tal auf 1450 Metern gar zweistellige Plusgrade. Der wenige Schnee hatte sich in eine weiße „Matschepampe“ verwandelt. Die Skifahrer hatten ihn zu großen, sulzigen Haufen zusammengerutscht und darunter eine Unmenge Eisplatten frei gelegt.


Sulze oder Eis

Blaueis auf der Piste

Auf der steilen Madloch-Abfahrt, die glücklicherweise aus der Rennwertung genommen worden war, schimmerte das blanke Eis an einigen Stellen blau. Um dort halbwegs sauber hinunter zu schwingen, hätte ich Schlittschuhe benötigt. Meine Ski machten permanent nicht das, was ich, sondern was sie wollten. Zwischen den für das Rennen gesteckten Toren hatten sich knietiefe Rinnen gebildet. Wie sollte ich dort nur in hohem Tempo sturzfrei durchkommen? Ich hoffte auf die Planierkünste der Österreicher, niedrigere Temperaturen wegen der frühen Startzeit und die wundersame Wiederkehr meiner bescheidenen Skikünste über Nacht.


Ich war V 98

Entengalopp

Als ich am nächsten Morgen um sieben Uhr aus dem Fenster blickte, schneite es leicht. Beim Frühstück erfuhr ich, dass die Organisatoren den Start zunächst um eine Stunde nach hinten verlegt hatten. Am Rüfikopf eingetroffen, war daraus bereits eine 90-minütige Verzögerung geworden.
Als die ersten 20er-Gruppen ins Rennen geschickt wurden, hatte sich die Sonne wieder durchgesetzt und ließ mich schon schwitzen, bevor es richtig los ging. Herr Lehmann musste nicht allzu lange warten. Als ich ihn hinter der Startlinie im „Entengalopp“ den ersten Hang hinaufstapfen sah, ertappte ich mich bei dem Gedanken: „Das kann ich schneller.“


Wer watschelt am schnellsten?

Warten auf’s Starten

Eine Viertelstunde später wurde auch meine Gruppe aufgefordert, sich für den Start bereit zu machen. Ich schnallte die Skier an, der Adrenalinspiegel stieg – bis zur Durchsage: „Das Rennen ist für unbestimmte Zeit unterbrochen. Wir wissen noch nicht warum.“ Aber jeder konnte es sich denken. Ein Starter musste schwer gestürzt sein. Doch wohl nicht Herr Lehmann? Später wurde bestätigt, dass ein Rettungshubschrauber auf der Piste hatte landen müssen. Der Ehrgeiz, Herr Lehmann zu distanzieren, erlahmte. Mit jeder Minute wurden mir meine Knochen wichtiger.

Mit Karacho ins Netz

Die Pause dauerte eine knappe Stunde. Als ich, inzwischen bereits nach zwölf Uhr, mit meiner Gruppe auf die Strecke geschickt wurde, startete ich mit mulmigem Gefühl in der Magengrube. Was erwartete mich jetzt zur Mittagszeit? Eis oder Sulze? Die ersten Passagen waren bestens präpariert. Ich ließ die Ski laufen. Streckenposten signalisierten, gelbe Fähnchen wedelnd, wo es ratsam war, Tempo herauszunehmen.


Letzte Ausfahrt Fangzaun

Einige scherten sich darum kaum. Vor der Einfahrt zum Trittalp-Sessellift schoss ein Fahrer an mir vorbei, konnte auf eisigem Untergrund nicht mehr bremsen und krachte ins Fangnetz. „Mir tut die ganze rechte Seite weh“, klagte er auf der Liftfahrt, um anschließend wie ein geölter Blitz weiter zu rasen.

Hätte ich doch nur gewachst!

Je tiefer ich kam, desto weicher wurde die Piste. An einigen engen Kurven hatten sich bereits wieder tiefe Rinnen gebildet. Ich pfiff auf Herrn Lehmann und meine Zeit und wählte mehr als einmal die indirekte Linie.
Der letzte Rennabschnitt hinunter nach Lech begann mit einem knapp 200 Meter langen Stück ohne Gefälle, dem Balmengrat. Dort bereute ich, dass ich meine Ski am Morgen nicht hatte wachsen lassen. Auf dem nassen, weichen Untergrund kam ich kaum von der Stelle. Das einzige, was auf Geschwindigkeit kam, war meine Atmung. „Nicht zur Seite schauen, schnell, schnell“, rief mir ein Zuschauer gut gemeint zu und bewirkte damit das Gegenteil.


Doping am Balmengrat

Ungelenker Klumpen

Aus dem vorletzten Loch pfeifend, stürzte ich mich in die letzten Hänge. Die Kraft schwand analog zur Geschwindigkeit. Die Oberschenkel brannten, in die Rennhocke kam ich kaum noch herunter. Ich fühlte mich wie ein ungelenker Klumpen, der sich den Berg hinunterwälzt.
Den Zielhang mit einigen gemein gesteckten Toren hatte ich mir genau eingeprägt. Hier, vor den Augen Hunderter von Zuschauern, wollte ich mich nun wirklich nicht mehr auf die Nase legen. Ich streute zwei zusätzliche Sicherheitsschwünge ein, um den tiefen Rinnen im sulzigen Schnee aus dem Weg zu gehen, quälte mich ein letztes Mal in die Rennhocke und flutschte ins Ziel.


Endlich im Ziel

Nach Luft japsend hing ich in den Schlaufen meiner Skistöcke. Als ich wieder etwa ein Viertel lebendig war, hob ich den Kopf. „Bravo!“, rief mir ein Mädchen zu, das als Streckenposten eingesetzt war. „Andere sahen schlimmer aus als du!“

Entmüdungsbecken

Na, dann. Immerhin war ich sturzfrei ins Ziel gekommen. Und durfte mich sogar über eine bessere Platzierung als im Vorjahr freuen: 792. von 941 Startern in der Ergebnisliste. Neun Minuten und 14,92 Sekunden fehlten mir zur Siegerzeit von Ex-Skirennläufer Josef „Pepi“ Strobl, der in seiner aktiven Sportlerkarriere immerhin die klassische Lauberhorn-Abfahrt in Wengen gewonnen hatte. Und Herr Lehmann? Hat mich deutlich abgehängt, war etwa dreieinhalb Minuten schneller. Ich hätte ihn gerne noch gefragt, wie es ihm auf dem „Weißen Ring“ ergangen war. Aber er war ja schon vor der Startunterbrechung ins Rennen gegangen. Als ich endlich im Ziel aufschlug, lag Herr Lehmann wahrscheinlich schon im Entmüdungsbecken seines Hotels, das ich mir in diesem Leben nicht mehr werde leisten können.

P.S. Die Rennpause war nötig geworden, weil eine 25 Jahre alte Rennläuferin in Zürs gegen eine Begrenzungsmauer gerast war und sich schwer verletzt hatte. Mit dem Rettungshubschrauber wurde sie ins Krankenhaus nach St. Gallen geflogen. Hoffentlich kommt sie schnell wieder auf die Beine.

Datum

17. Januar 2011 | 14:53

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