Topaktuell (Stand jetzt)
Jochen Hemmleb ist zu verdanken, dass „On Top of the World”, das Standardwerk zu den Achttausendern aus der Feder der US-Autoren Richard Sale und George Rodway, jetzt endlich auch auf Deutsch erschienen ist. Hemmleb hat das Original nicht nur übersetzt, sondern auch so ergänzt, das es bei Drucklegung im Oktober 2013 topaktuell war und, Stand jetzt, auch noch ist. Selbst Ueli Stecks Solo-Durchsteigung der Annapurna-Südwand hat Hemmleb noch verarbeitet. Dieser Meilenstein der jüngsten Geschichte des Himalaya-Bergsteigens findet sich auch im umfangreichen, übersichtlichen Statistik-Teil, den der akribische Chronist Eberhard Jurgalski beigesteuert hat. Jeder, der sich intensiver mit Achttausender-Bergsteigen beschäftigt, kennt Eberhards Internetseite 8000ers.com, die ein wahres Füllhorn an Informationen ist.
Alle Achttausender-Routen
In diesem Buch findet ihr also nicht nur spannende Geschichten aus allen Epochen des Achttausender-Bergsteigens, sondern auch jede Menge Datenmaterial. So könnt ihr zum Beispiel nachschlagen, welcher Achttausender die höchste Todesrate hat, wer wann welche Route eröffnet hat und wer im kalendarischen oder meteorologischen Winter an den höchsten Bergen erfolgreich war. Freuen werdet ihr euch sicher auch über die großformatigen Bilder der Achttausender, auf denen alle Routen eingetragen sind, die bis zum Herbst 2013 eröffnet wurden. Wer sich diese Übersichten im Internet zusammensuchen will, hat lange zu tun.
Winziger Wermutstropfen
Ich sage voraus, dass ihr auch nach der erstmaligen Lektüre immer wieder zu „Herausforderung 8000er“ greifen werdet. Es hat wegen seiner Informationsfülle das Zeug zum 8000er-Buch der Bücher – vorausgesetzt, es gibt spätestens alle ein bis zwei Jahre eine aktualisierte Neuauflage. Dann sollte man vielleicht auch im Kapitel über den Manaslu die verheerende Lawine im September 2012 am Manaslu erwähnen, in der elf Bergsteiger ihr Leben ließen. Ein winziger Wermutstropfen.
]]>Das letzte Bild von Mallory und Irvine 1924
Frank Smythe war vom höchsten Berg der Erde besessen. „Der Everest wird zur Lebensaufgabe“, schrieb er in sein Tagebuch. An allen drei britischen Everest-Expeditionen der 1930er Jahre nahm Smythe teil. Er galt nicht erst seit der Erstbesteigung des 7756 Meter hohen Kamet im Jahr 1931 als einer der besten Bergsteiger seiner Zeit. Am 1. Juni 1933 stellte Frank mit rund 8570 Metern den Everest-Höhenrekord ein, als er im Alleingang wohl dieselbe Stelle in der Nordwand erreichte wie sein Landsmann Edward Felix Norton 1924. „Der Gipfel war nur 1000 Fuß (300 Meter) über mir, aber ein ganzes Zeitalter an Müdigkeit trennte mich von ihm“, schrieb Smythe später. Er kehrte um. Auf dem Rückweg halluzinierte Frank. Er wähnte einen Begleiter an seiner Seite, mit dem er seinen Kuchen teilen wollte. Er war auch überzeugt, dass über ihm zwei knollenförmige Wesen schwebten. Diese Erlebnisse schrieb Smythe später in seinem Buch „Camp 6“ nieder. Eine Beobachtung, die Frank offenbar drei Jahre später bei seiner nächsten Everest-Expedition machte, hielt er jedoch bis zu seinem Tod im Jahr 1949 geheim. Möglicherweise wenn nicht sogar wahrscheinlich hatte Smythe 1936 die Leiche von George Mallory entdeckt. Das Rätsel um Mallory und Andrew Irvine, die 1924 zu einem Gipfelversuch aufbrachen, aber nicht zurückkehrten, ist bis heute nicht vollständig gelöst.
Etwas Seltsames gesehen
Tony Smythe fand jetzt bei der Recherche für ein Buch über seinen Vater die Kopie eines Briefes, den Frank nach seiner Everest-Reise 1936 an Edward Norton geschrieben haben soll, den Expeditionsleiter von 1924. „Im vergangenen Jahr war ich dabei, die Wand vom Basislager aus mit einem leistungsstarken Teleskop systematisch abzusuchen, als ich in einer Rinne unterhalb der Geröllzone etwas Seltsames sah“, heißt es in der Kopie des Briefes. „Natürlich war es sehr weit weg und sehr klein, aber ich habe ein normales Sehvermögen, und ich glaube nicht, dass es ein Fels war. Dieses Objekt befand sich genau an der Stelle, wohin Mallory und Irvine gefallen wären, wenn sie über die Schutthänge gerollt wären.“
Bloß kein Pressewirbel
Smythe bezog sich damit offenbar auf die vermutete Absturzstelle, an der Mitglieder der Expedition 1933 in 8460 Meter Höhe den Eispickel Irvines gefunden hatten. Etwa 300 Meter darunter, 100 Meter seitlich wurden 1999 tatsächlich die sterblichen Überreste von Mallory entdeckt. Hatte Frank Smythe bereits 1936 diese Stelle ausgemacht? Er wollte jedenfalls nicht, dass seine Entdeckung veröffentlicht wurde. „Es sollte nicht darüber geschrieben werden, weil die Presse daraus eine üble Sensation machen würde“, heißt es in der Kopie des Briefes an Edward Norton. Und der hielt offenbar auch dicht.
Irvines Leiche weiter verschollen
Dass Smythe mit seiner Einschätzung der Medien nicht ganz falsch lag, zeigte sich gut 60 Jahre später. Die Entdeckung von Mallorys Leiche durch den US-Bergsteiger Conrad Anker am 1. Mai 1999 verbreitete sich wie ein Lauffeuer und sorgte weltweit für Schlagzeilen. Maßgeblich für die erfolgreiche Suche verantwortlich war der deutsche Mallory-Experte Jochen Hemmleb, der mit detektivischer Akribie alle verfügbaren Informationen interpretiert und das Suchgebiet eingegrenzt hatte. Hätte Hemmleb den Brief von Frank Smythe gekannt, wäre ihm möglicherweise einiges an Arbeit erspart geblieben. Die Leiche Andrew Irvines ist jedoch bis heute ebenso verschollen geblieben wie die Kamera, die er bei sich trug. Deshalb verstummen auch jene Stimmen nicht, die uns glauben machen wollen, dass Mallory und Irvine schon 1924 die Erstbesteiger des Mount Everest waren und erst beim Abstieg ums Leben kamen.
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Der Australier Duncan Chessell
Geheimniskrämerei
Chessell hatte aus seinem Anliegen kein Geheimnis gemacht – im Gegensatz zu Jochen Hemmleb, der sich in diesem Frühjahr ebenfalls wieder auf der tibetischen Nordseite des Mount Everest aufhielt. Der Deutsche, der in Südtirol lebt, leitete eine Expedition, zu der auch ein Regisseur und zwei Kameramänner aus Österreich gehörten, die sich auf spektakuläre Bergfilme spezialisiert haben. Hemmleb hatte mit seinen Recherchen die letztlich erfolgreiche Suchexpedition 1999 nach Mallory angestoßen und hat sich in diese Geschichte regelrecht verbissen. Elf Jahre und zwei Bücher später wollte er offenbar einen weiteren Coup landen. Sollte sich der Berg wirklich rechtzeitig gewehrt haben? Dann darf weiter kräftig spekuliert – und auch verdient werden. Denn auch ein offenes Rätsel kann lukrativ sein.
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Das letzte Foto von Mallory und Irvine
Der Marmormann
1933 wurde Irvines Eispickel unterhalb des „First Step“, einer weiteren, tiefer gelegenen Felsstufe, gefunden. Hatte sich Odell geirrt und die beiden möglicherweise weiter unten gesehen? 1999 machte sich eine Expedition unter Leitung des US-Amerikaners Eric Simonson auf die Suche nach den vermissten englischen Bergsteigern. Conrad Anker entdeckte die Leiche Mallorys auf einer Höhe von 8160 Metern, etwa in Falllinie der Eispickel-Fundstelle. „Ich hatte den Eindruck, eine griechische oder römische Marmorstatue zu sehen“, schreibt Anker in seinem Buch „Verschollen am Mount Everest“. Die an einigen Körperteilen freiliegende Haut schimmerte weiß. Mallorys Bein war gebrochen, schwere Kopfverletzungen waren zu sehen. Die Expeditionsmitglieder fanden in den Taschen des offenkundig abgestürzten Bergsteigers mehrere persönliche Gegenstände, aber keinen Fotoapparat. Weitere Suchexpeditionen 2001 und 2004 blieben erfolglos.
Zu 85 Prozent überzeugt
Anfang dieses Jahres sorgte die verschollene Kamera erneut für Schlagzeilen. Der Everest-Historiker Tom Holzel erklärte, er habe durch die Analyse hochaufgelöster Luftaufnahmen in einer Höhe von 8425 Metern eine Stelle ausgemacht, an der etwas 1,80 Meter Großes liege. „Ich bin zu 85 Prozent überzeugt, dass es sich um Irvine handelt“, sagte Holzel. Es sei nahe der Stelle, an der 1960 zwei chinesische Bergsteiger die gefrorene Leiche eines Engländers gesehen haben wollen. Holzel scheiterte mit seinem Versuch, Sponsoren für eine 200.000 Dollar teure Suchexpedition aufzutreiben.
Irgendwo nahe der Pfeilmarkierung wird die Leiche Irvines vermutet
R.I.P.?
Ein spanischer Bergsteiger berichtete kürzlich, eine österreichische Expedition suche in diesem Frühjahr nach Irvine und dessen Kamera. Und tatsächlich taucht im Blog des nepalesischen Expeditionsveranstalters Explore Himalaya die Mitgliederliste einer deutsch-österreichischen Expedition zur tibetischen Seite des Mount Everest auf. Darauf stehen unter anderen ein Regisseur und zwei Kameramänner aus Österreich, die sich auf spektakuläre Bergfilme spezialisiert haben. Als Expeditionsleiter wird der Deutsche Jochen Hemmleb aufgeführt. Der hatte mit seinen Nachforschungen zu Mallory und Irvine die Suchexpedition 1999 angestoßen und auch daran teilgenommen. „Mein Leben beschleunigte sich, als hätte man mich auf eine Rakete gesetzt und die Lunte gezündet“, schreibt Hemmleb über die Zeit danach. 2009 erschien mit „Tatort Mount Everest. Der Fall Mallory“ bereits sein zweites Buch zum Rätsel um die beiden englischen Bergsteiger. Und was macht Hemmleb jetzt an der Nordseite des Mount Everest? Ich glaube kaum, dass er nur den Gipfel besteigen will.
R.I.P. (Ruhe in Frieden), das dürfte für Andrew Irvine wohl in nächster Zeit nicht gelten. Vielleicht hätte er doch den Fotoapparat im Basislager lassen sollen.