Dass ich ausgerechnet an diesem horizontalen Nullpunkt der Welt meine letzten Fastentage vor Ostern verbringe, ist Zufall. Die Reise war längst geplant, als ich mich zum Fasten entschloss. Und dennoch ein schöner Zufall, denn der Karsamstag, an dem wir nach Deutschland zurückkehren, ist der letzte Fastentag, ebenfalls eine Demarkationslinie. Dann drehe ich auch meine innere Uhr auf Null: Am Ostersonntag beginnt die Ära des bewussten Genusses.
Wie leicht man sich doch in dieses euphorische Geschwafel hineinsteigern kann! Wie war das noch: Euphorie kommt vor dem Sündenfall? Ja, vielleicht erwartet mich ein Nullpunkt der ganz anderen Art: moralisch, religiös oder – was noch viel schlimmer wäre – fastentechnisch? Vielleicht kommen mir plötzlich Worte meiner Kollegen in den Sinn, dass Reisende gar nicht fasten müssen? Oder meinem inneren Engelchen wachsen beim Anblick von Cadbury’s Schokoriegeln Teufelshörner?
Nein, ich bleibe hart, schließlich kann ich neue Erfolge vorweisen: Bei der Party am Samstag habe ich mich sehr angenehm mit Grillfisch über Wasser gehalten. Und dem vorher und nachher angebotenen Kaffee und Kuchen habe ich auch getrotzt.
Was soll mir da eine Woche London anhaben? Zumal es ja eine Urlaubswoche sein wird…! Und doch: Es ist wohl der erste Urlaub, bei dem ich mich, je näher das Ende rückt, aus ganzem Herzen freuen kann: auf den ersten Kaffee, das erste Stück Schokolade und das erste Steak seit Karneval!
]]>wir sind auf gutem Weg, ein Gender-maingestreamtes Fasten zu definieren. Stefan fürchtet den Gender-Pilz, andere vielleicht das Gender-Pils. Die Umfrage der Apothekenumschau, nach der Frauen beim Fasten öfter scheitern, klingt wie die Wiederbelebung der Rede vom schwachen Geschlecht. Klaus hat ja die Umfrage selber interpretiert und in ihren Interessenkontext gestellt. Solche Erhebungen erheben mitunter die Fragenden. Der Antrieb dazu ist die Angst, die die Werbung für einen scharfen Drops klassisch formulierte: „Sind sie zu stark, bist du zu schwach.“
Die Umfrage hätte zur These meines Kirchengeschichtsdozenten gepasst. Der meinte, in der Antike seien Männerkulte eher asketisch und Frauenkulte eher orgiastisch gewesen. Wir haben ihm erst einmal geglaubt, und als wir fragen wollten, war das Thema schon durch. Ob er Adam und Eva meinte? Hetären? Tempelsklavinnen? Es gibt im zweiten Buch der Könige eine strikte Absage an Tempelsklaven, wie sie andere Kulte praktizierten. Der Reformkönig Joschija, der das verlorene Gesetzbuch wiederfindet, lässt die Sklavenhäuser am Tempel abreißen, „in denen die Frauen Schleier für die (Göttin) Aschera webten.“ Das klingt jetzt nicht sehr orgiastisch. In den letzten Jahren haben Forscher die antiken Berichte über Tempelprostitution in Zweifel gezogen. Wahrscheinlich hat einer die exotische Sensation vom anderen abgeschrieben, ohne den Wahrheitsgehalt zu prüfen. Einige wenige Beispiele dafür sind nur aus Indien belegt.
Mich erinnert die Umfrage auch an die klugen und lebensfrohen Nonnen aus dem mexikanischen Chiapas. Die hatten eine Regelungslücke des erst sechs Jahre zuvor beendeten Konzils von Trient genutzt, das die bis heute geltenden Fastenregeln aufstellte: kein Fleisch von Landtieren, nichts Festes, aber Flüssiges. Die Nonnen tranken Xocoátl, zu deutsch: Schokolade. Das sahen ihre Bischöfe ungern. Die Nonnen meinten, das Getränk mache sie freudiger zum Gebet. Die Bischöfe fürchteten, dass das Getränk ganz andere Lüste wecke, denn man munkelte allerlei. Deshalb schickten sie 1569, eine Generation nach Martin Luther, einen Abgesandten, Girolamo di San Vincenzo, zu Papst Pius V., um die Frage zu klären. Der Papst hatte eigentlich größere Probleme: Er wollte einen Kreuzzug gegen die Türken auf den Weg bringen. Widerwillig kostete er von dem Getränk, das ihm Fra Girolamo gekocht hatte: nur mit gallebitteren Kakaobohnen, ohne die eigentlich üblichen Kräuter. Und befand: „So ein Zeug bricht kein Fasten.“ Fünf Päpste bestätigen in den Jahrzehnten darauf seine Entscheidung, denn die Bischöfe gaben so schnell nicht auf. Dominikaner verdammten die Fastenschokolade, Jesuiten befürworteten sie; allerdings handelten sie auch schwunghaft damit. Die klugen Nonnen machte sich das Fasten angenehm.
Vielleicht fiel ihnen damit eine Regel leichter, die Jesus aufstellte. Er mochte nicht, dass man mit Fastenbittermiene durch die enthaltsamen Wochen geht. Sondern: „wenn du fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, damit du dich nicht vor den Leuten zeigst mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist.“ Vielleicht können Frauen mit ihrer Lust am Leben das leichter umsetzen. Vielleicht fasten Frauen anders. Ich faste jedenfalls gerne mit Frauen, die dabei Cocktailrezepte austauschen.
Und, Klaus, eine ehrliche Antwort auf Ihre Frage am Schluss: Am Wochenende breche ich mein Fasten, wahrscheinlich sogar bis Montag. Ich habe Geburtstag und dazu viele Freunde eingeladen, bevor ich zusagte, Sie hier beim Fasten zu begleiten. Habe ich Ihren Segen?
]]>Cocktailrezepte im Fastenblog sind auch für mich eine Premiere. Mal schauen, wie ich damit umgehe. Vielleicht sollten wir ein Fest zum Fastenbrechen veranstalten und sie dabei ausprobieren.
Ich musste in den letzten Tagen zweimal Güter abwägen. Am Ziel einer Reise bot mir eine Ordensfrau Kekse und Schokolade an. Und es stand eine Schale Oliven auf dem Tisch. Sie hat mich darauf hingewiesen, dass man auf Reisen nicht fasten muss. Ich habe versucht, einen Mittelweg zu wählen, und zwei Kekse gegessen. Um die Gastfreundschaft zu ehren. Sie selber blieb bei den Oliven. Und gestern abend um halb zehn, als ich aus der Redaktion nach Hause kam, stand ein spontaner Besucher vor der Tür, der mir einen Gefallen tun wollte. Ich bot ihm einen Wein an, weil ich wusste, dass er nicht fastet und dass er Wein mag. Hätte ich Wasser trinken sollen? Am liebsten hätte ich es getan. Aber es schien mir gastfreundlicher, ein Glas mit ihm zu teilen. Ein zwiespältiger Genuss. Jetzt steht eine angebrochene Flasche im Kühlschrank. Und ich weiß noch nicht, was ich heute abend tun soll: Schütte ich den Rest weg, um zu fasten? Oder genieße ich noch einmal, vielleicht halbherzig?
Da sind wir beim Thema der Freiheit und der Entscheidung. Sie haben sich klar gemacht, dass Sie sich frei zum Fasten entschieden haben. Und sich auf dem Weg gefragt, ob das eine gute, eine nützliche Entscheidung war. Jetzt, wo das Fasten nicht mehr so schwer fällt, kommt der Zweifel, wem es hilft, bis zum Ende durchzuhalten, wenn es keinen Kick mehr bringt. Und manchmal wächst die Unentschlossenheit.
Dietrich Bonhoeffer, der Märtyrer, hat Situationen wie diese gekannt und dazu ein – ziemlich unbekanntes – Gedicht über die „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ geschrieben (der Titel im Link ist leider verkürzt). Ich habe die erste Strophe auswendig gelernt, als ich mich zum Theologiestudium entschlossen hatte und darin meine Berufung sah, die ich durchhalten wollte. Was Bonhoeffer sagt, spiegelt sich im strengen Versmaß von Distichen, also Zweizeilern aus Hexameter und Pentameter. Sie verleihen den Gedanken die Wucht von Glockenschlägen. Für Bonhoeffer fängt der Weg zur Freiheit mit „Zucht“ an, wir würden sagen: mit der Beherrschung. Wer frei werden will, muss seinen Willen trainieren und über die Begierden des Augenblicks hinwegkommen. Stefan erlebt das mit dem Nikotin-Entzug von uns allen am heftigsten und unmittelbarsten.
Aber wir haben uns alle auf den Weg zur Freiheit begeben. Darin liegt der Reiz, die Entscheidung durchzuhalten. Die Freiheit liegt – noch – vor uns.
]]>Auch christlich inspirierte Dichter nehmen keine Rücksicht auf mich, produzieren Süßstoff am laufenden Band: Heinrich Schütz („O Jesu süß“) ebenso wie Angelus Silesius („Jesu, wie süß ist deine Liebe“) und Annette von Droste Hülshoff („Am Feste vom süßen Namen Jesus“). Nein, bin kein Poesiebanause, sondern schlicht unterzuckert.
Und das ist ja auch mal eine Erfahrung. Zucker macht dick, Zucker treibt den Blutdruck in schwindelnde Höhen, Zucker macht zuckerkrank. Mit diesen Erkenntnissen erhalte ich mir die Fastenmoral, ignoriere tapfer den Gute-Laune-Teller, den meine Kollegin – selbstlos wie sie nun mal ist – jeden Tag mit Schokoriegeln und anderem Süßkram füllt, um die Stimmung in der Redaktion hochzuhalten. Früher war ich ihr bester Kunde, jetzt mache ich – krampfhaft lächelnd – einen großen Bogen darum.
Trost spendet mir dabei nur Johann Franck, der Textgeber für Johann Sebastian Bachs Motet „Jesu, meine Freude“. Hier heißt es in der letzten Strophe: „Denen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Zucker sein“. Oh ja!
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