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Treffpunkt - Buluşma Noktası

Türkische und deutsche Kultur im Dialog

Befreiendes Schauspiel

Der Schriftsteller Ahmet Tulgar

Ich sehe nicht regelmäßig fern. Meine Tätigkeit als Schriftsteller lässt mir kaum Zeit dazu. Doch das änderte sich letzten Winter als meine Mutter einen Unfall erlitt und ich eine Zeit lang bei ihr zu Hause blieb. Eines Tages fiel mir auf, dass die Pflegerin meiner Mutter während ihrer Arbeit einen Film im Fernseher nicht aus den Augen lassen konnte. Als sie bemerkte, dass nun auch ich meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm richtete, gab sie mir flüchtig den Hinweis, dies sei die erste Folge einer neuen Serie. Da sie eigentlich arbeiten musste, fühlte sie sich ertappt. Sie lud mich zum Mitschauen ein und bat so gleichzeitig um Verzeihung. Diese Serie sollte dann meine Dienstagabende der nächsten Monate bestimmen.

Ausdrucksstarke Mimik und Gestik als neues Element

Die Polizeiserie „Ucurum“ unterscheidet sich sowohl wegen des Drehbuchs als auch aus technischer Sicht sehr von jeglichen anderen türkischen Serien. So kann ich rechtfertigen, warum ich diese Serie – man kann sagen fast süchtig – verfolge. Der wichtigste Grund, weswegen ich mich mit dieser Serie befasse, ist einer der Schauspieler. Yaman, der Schurke der Serie, hatte mich schon in den ersten Szenen fasziniert. In den weiteren Folgen war dieser Charakter für mich, um es in einer Marketingterminologie auszudrücken, die „unique selling proposition“ (Alleinstellungsmerkmal).

Besagter Charakter „Yaman“, gespielt von Erdal Yildiz, ist ein Schurke, an den sich türkische Film- oder Serienzuschauer nicht so schnell gewöhnen. Er schaut nicht lange und horizontal in die Kamera wie in der sonst üblichen Darstellung von Schurken. Er spricht auch nicht in der typischen tiefen Bassstimme, die jegliche Andeutungen von Bosheit vermissen lässt. Stattdessen spricht er mit einem gebrochenen deutsch-türkischen-Akzent. Höchstwahrscheinlich wurde das Drehbuch um einige deutsche Worte erweitert, nachdem feststand, dass Yildiz diesen Charakter verkörpern würde. Er benutzt sporadisch bestimmte deutsche Worte, während er stets die Züge seines Gesichts und den Ausdruck seines Körpers verändert oder sie mit flüchtiger Mimik und Gestik erweitert.

Bereichernde Andersartigkeit aus Deutschland

Auf diese Weise wurde ich neugierig auf die Geschichte von Erdal Yildiz, dem Darsteller von Yamar, dem Schurken. Ich habe recherchiert. Meint, ich habe „gegoogelt“. Ich stellte fest, dass Yildiz nicht nur Schurken spielt, sondern auch der zärtliche und gut aussehende Macho in der deutsch-türkischen Produktion „Zenne“ war. Yildiz kam mit sechs Jahren gemeinsam mit seiner Familie aus einem kurdischen Dorf der Provinz Dersim (heute Tunceli, Anm. d. Red.) nach Deutschland. In der Stadt, in der sie in Deutschland eintrafen, lebte sonst keine weitere Familie aus der Türkei. Später zog er nach Berlin, um dort Schauspieler zu werden. Als seine Erwartungen nicht erfüllt wurden, schrieb er sich in den USA an einer Schauspielschule ein. Er beendete seine Ausbildung in den USA, kehrte zurück nach Deutschland und binnen Kurzem erhielt er mehrere Jobangebote. Erdal Yildiz, das „enfant terrible“ der deutschen Filmindustrie, ist seit der Saison 2011/12 ein gesuchter Schauspieler für Serien in der Türkei. Die Kritiker finden, er bringe frischen Wind in die türkische Filmbranche.

Die Gründe für diese Ansicht der Kritiker, und auch die Gründe, warum die Zuschauer diesen fiktiven Charakter trotz all seiner Handicaps ins Herz geschlossen haben, sind vielfältig. Da ist zum einen das persönliche Talent des Schauspielers und sein Charisma. Zum anderen ist da seine Andersartigkeit zu nennen, die er sich durch sein alltägliches Leben in Deutschland angeeignet hat und mit der er die Schauspielkunst in der Türkei bereichert.

Aufbrechen traditioneller Darstellungen

Diesen Trend der deutsch-türkischen Schauspieler in der Türkei verfolge ich schon seit geraumer Zeit. Die deutsch-türkischen Schauspieler und Regisseure bereichern den türkischen Filmsektor und das Fernsehen um bisher nicht vorhandene Qualitäten. Ich habe des Öfteren den Scherz angebracht: „Man soll in der Türkei eine Serie mit dem Titel ‚Was guckst du?‘ produzieren.“ Denn in der Türkei werden Serienfolgen oft mit Szenen gestreckt, in denen sich die Protagonisten nur lange gegenseitig anschauen, um so die nötige Sendezeit für die Platzierung von Werbeblöcken zu erreichen. Auf diese Weise bestimmt der profitorientierte Ansatz Fernsehsender die Gestaltung der Serien.

Genau an dieser Stelle revolutionieren die deutsch-türkischen Schauspieler mit ihrer lebendigen Mimik und freieren Gestik diese Gestaltung – und das nicht nur im Fernsehen. Damit brechen sie auch die traditionellen Darstellungen der „Yesilcam“-Verfilmungen auf, die den Zuschauern jahrelang ein eintöniges Schauspielverständnis vorgeführt hatten. [„Yesilcam“ bezeichnet die traditionelle Filmindustrie in der Türkei, Anm. d. Red.] Kurzum, die Individuums- und Körperpolitik eines anderen Landes rüttelt die türkische Schauspieltradition auf.

Individuelle Darstellung stößt gesellschaftliche Debatten an

Ein anderes Beispiel in dieser Hinsicht ist die Nursel Köse, Architektin und eine der bekanntesten deutsch-türkischen Schauspielerinnen. Sie begann ihre Schauspielkarriere in Berlin. Ihre Mimik, die sie während einiger leidenschaftlicher Diskussionen in den Cafés der Stadt zur Schau trug, setzte sie auch in ihrer dritten türkischen Serienrolle ein. Mit ihrer Typisierung der emanzipierten Frau traf sie den Geschmack vieler Darsteller und Kritiker. Das Interesse an ihr wuchs mit ihrer Rolle in dem Film „Yasamin Kiyisinda“ von Fatih Akin, für den sie mit dem Preis von Altin Portakal ausgezeichnet wurde.

Auch wenn ich auf Fatih Akin an dieser Stelle zwar nicht detailliert eingehen werde, muss ich betonen, dass er nicht nur für die Jugendlichen in Deutschland, sondern auch in der Türkei ein Vorbild und eine Ermutigung für diejenigen ist, die Film und Fernsehen studieren möchten. Im Weiteren möchte ich ein anderes „enfant terrible“ des türkischen Films, Birol Ünel, näher beleuchten.

Seine Schauspielertalente im Film „Gegen die Wand“, sein unbändiges Schauspieltalent, seine Offenheit, mit der er dem Zuschauer die Bandbreite seiner Gesichts- und Körperausdrücke ganz frei präsentierte, stilisierte Birol Ünel in der Türkei zu einer einzigartigen Freiheitsikone. Sibel Kekilli hingegen, die ebenfalls in dem besagten Film mitspielte, musste sich gegen die gegen sie gerichteten patriarchalen und moralischen Angriffe zur Wehr setzen. Dadurch gab sie, nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als junge Frau, den Anstoß für eine breite gesellschaftliche Diskussion zum Thema persönliche Freiheiten.

Neue Chancen für den neuen türkischen Film

Als sie 2011 ihren Film „Zenne“ machten, ließen sich die Regisseure Caner Alper und Mehmet Binay von Fatih Akin und dem Thema der Brücke zwischen den Jugendlichen in Deutschland und der Türkei inspirieren. Der Film wurde Ahmet Yildiz gewidmet, der aufgrund seiner homosexuellen Orientierung von seinem eigenen Vater ermordet worden war. Der Film berührte breite Gesellschaftsschichten – weit über die LGBTT-Kreise (Lesbian-, Gay-, Bisexual- und Trans-Kreise) hinaus – und wurde mehrfach ausgezeichnet.

Die Freiheit in Deutschland tut dem türkischen Kino gut. Das trifft auch auf Filmemacher türkischer Herkunft und den türkischen Film- und Schauspielsektor zu. Die Freiheit erweitert nicht allein Horizonte. Sie eröffnet ein breites Feld für Gestik und Mimik, indem sie den Körper der Kontrolle der unsinnigen Moral und der des Regimes entzieht. Das ist die neue Chance, die die türkischstämmigen Regisseure und Schauspieler aus Deutschland für den türkischen Film- und Seriensektor mitbringen.

Datum

Freitag, 14.09.2012 | 16:29

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