Deutschland – Treffpunkt https://blogs.dw.com/treffpunkt Vier Kulturschaffende aus Deutschland und der Türkei schreiben über verschiedene Aspekte ihres kulturellen Umfelds Tue, 11 Dec 2012 09:23:30 +0000 de-DE hourly 1 Wie ich den deutschen Sprachraum entdeckte https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/01/wie-ich-den-deutschen-sprachraum-entdeckte/ Mon, 01 Oct 2012 10:30:55 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=377 Im Sommer 1970 hatte ich die Aufnahmeprüfungen bestanden und wurde in eins der renommiertesten Gymnasien des Landes, und zwar in das österreichische Sankt Georgs Kolleg, aufgenommen, welches seit 1882 besteht. Damals war ich 11 Jahre alt. Doch eines konnte ich mit meiner kindlichen Vernunft schon begreifen: Die europäische Kultur, der sich die türkische Republik schon seit ihrer Gründung und davor zuwendet und von der sie ein Teil werden möchte oder vielleicht von Zeit zu Zeit bereits ein Teil geworden ist – in Form von einer Gegenidentifikation – diese europäische Kultur würde eine bedeutende Rolle in meinem Leben spielen. Und so geschah es auch.

Anfangs hatte das Land Österreich für mich verschiedene Bedeutungen: Es war das Land, in dem meine Lieblingsrockgruppen ihre Schallplatten gleichzeitig wie in den angelsächsischen Ländern auf den Markt brachten; das Land, in dem ich meine Lieblingsbücher oder Zeitschriften günstiger kaufen konnte; das Land, in das wir mit der Schule jedes Jahr in einem Bus fuhren und das wir nach 30-stündiger Fahrt erreichten und zwei Wochen lang eine schöne Zeit verbrachten – jedoch unter Aufsicht unserer Lehrer … Damals waren das Ausreisen aus der Türkei nicht so einfach. Also war das Land Österreich für uns Halbwüchsige, die es aus dem Land geschafft hatten, das wunderbare Land, in dem wir die Kosmetikbestellungen unserer Mütter erledigen konnten.

Zur gleichen Zeit begannen wir im Deutschunterricht mit unserem Lehrer Stephan Unterberger das Buch „Wesen und Werden der deutschen Dichtung“ zu lesen und ich begriff sehr schnell, wie wir über Sprache und Literatur ein Teil des gemeinsamen Menschheitsabenteuers wurden. Einerseits konnte ich mithilfe der deutschen Sprache sowie der deutschen Literatur mein Land mit Abstand und mit anderen Augen betrachten. Andererseits konnte ich dadurch sowohl die Unterschiede aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und der Türkei, oder besser formuliert, zwischen dem deutschsprachigen Gebiet und der Türkei, sehen. Ich konnte mich beiden Gebieten mit Einfühlungsvermögen annähern. Auf diese Weise erhielt ich zwei Heimatländer. Wenn ich in dem einen lebte, vermisste ich das andere. Meine eine Heimat war die Türkei und die andere der deutsche Sprachraum. Ich nenne es den „deutschen Sprachraum“, denn der Lehrplan des österreichischen Sankt Georgs Kolleg kann einen Schüler genau so gut in den österreichischen wie auch in den deutschen Sprachraum integrieren.

Natürlich habe ich in der Schule ziemlich viel über Österreich und Deutschland erfahren. Meine Neugier hielt in den folgenden Jahren an. Und vielleicht habe ich den deutschen Sprachraum aus bester Quelle erlernt: aus der Literatur.

Thomas Bernhard gilt meine Liebe. Genau so wie Thomas Mann und Heinrich Mann. Bernhard beschrieb das gesellschaftliche Trauma, das nach der geografischen Verkleinerung des österreichischen Reiches auftauchte. Ich habe lange darüber nachgedacht. Nach Bernhards Anmerkungen habe ich das österreichische Theater, die Operette und die Oper besucht. Um eben dieses Trauma zu überwinden, wählte Österreich diesen Weg aus: Die aktuellen emotional-historischen Komplexe sollten auf der künstlerischen Bühne reproduziert und aufgeführt werden. Vielleicht ist auch aus diesem Grund die Wahl des Leitungsteams des Burgtheaters in Wien für das Volk genauso wichtig wie die Wahlen zum Präsidentenamt.

Das türkische Volk lebt mit demselben Trauma. Das Trauma des Herabsteigens von der Weltmacht hinunter auf die Dritte-Welt-Kategorie. Die unaufhörliche Spannung zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen. Aber man kann nicht mit Traumata weiterleben. Oder wie der Held meines neuen Romans es behauptet „Wir sind das, was wir aufgrund unserer Traumata geworden sind“. So hat die Türkei das Trauma des Herabsteigens von einer Weltmacht überstanden, indem sie in der Lage ist, eine ganze Straße, oder, wenn es sein müsste, ein ganzes Land sofort in eine Theaterbühne zu transformieren. Diese Fähigkeit der türkischen Republik hat sicherlich zu der Entstehung des soziologischen Phänomens, das ich Formalismus nenne, beigetragen.

In dieser Hinsicht ist Deutschland ein fruchtbares Land was seine Kultur, Kunst sowie Literatur angeht und meiner Meinung nach bodenständig. Trotz seiner besonderen Fähigkeiten von Form bis zur Funktion, sei es eine Maschine oder Architektur, konzentrierte sich das Land auf andere Inhalte. Es scheint, dass Deutschland ein Land ist, welches mit sich selbst in Frieden ist. Es ist ein Land, welches nach seiner Vergangenheit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der daran anschließenden Konfrontation, also nach so einem Trauma, eine demokratische und pluralistische Weltsicht hervorbringen konnte. Dieser Fähigkeit verdankt es sein Wachstum. Deutschland ist ein Land, in dem gutes Theater auf die Bühne kommt und in dem Theater geschützt und gefördert wird.

Aber wie schon gesagt, ich bin in beiden Ländern zuhause. Sowohl in der Türkei als auch im deutschen Sprachraum. Zwar ist die jeweilige geografische Lage unterschiedlich, jedoch der jeweilige Platz in meinem Leben gleich.

]]>
Spurensuche https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/26/spurensuche/ Wed, 26 Sep 2012 09:29:51 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=321 Das „integrierte“ Leben der Beutetürken

Ob der Islam nun zu Deutschland oder nicht gehört darüber wurde ausreichend diskutiert. Aber dass die Menschen mit türkischen und muslimischen Hintergrund zu Deutschland gehören, steht außer Frage.

Die Türken, die als Gäste in den sechziger Jahren nach Deutschland kamen, waren beileibe nicht die Ersten. Vor ihnen waren schon die Beutetürken da gewesen. Das waren die Türken, die in den osmanischen Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts gefangen genommen und nach Deutschland und Österreich verschleppt worden waren. Es war wahnsinnig schick, sich an seinem Hof einen Türken zu halten. Ob Kammer- oder Hoftürke, sie waren beide Beutetürken.

In Deutschland regierte das Prinzip „cuius regio, eius religio“. Mit anderen Worten: Das, was der Chef glaubte, mussten auch die Untertanen glauben. Da noch keine Demokratie herrschte, wurden die Beutetürken zwangsweise einem intensiven Unterricht in deutscher Sprache und christlicher Religion unterzogen. Dann wurden sie getauft. Diese Türkentaufen sollen ein großer Spaß gewesen sein – für das Publikum. In ihrer Beliebtheit hatten sie einen ähnlichen Stellenwert wie die Vollstreckung von Todesstrafen und das Verbrennen von Hexen. Der Türke musste zwar vor seiner Taufe ausrufen, dass er ein „Türk“ und ein verdammter Mensch sei, das war es dann aber auch schon, denn das christliche Weihwasser erlöste ihn dann von seinem jämmerlichen türkischen Zustand. So einfach war das damals mit der Integration. Mit ihren eigenen Untertanen gingen die Herrschenden auch nicht weniger zimperlich um.

Ali und Hassan zum Beispiel verschlug es in das Charlottenburger Schloss in Berlin. Sie hießen nun Friedrich Ali und Friedrich Wilhelm Hassan. Die Königin soll sehr liebevoll mit den beiden, die ihre Diener waren, umgegangen sein. Sie erhielten in der Schlossstraße ein Freihaus. Zum Abschied soll sie immer „Adieu Hassan, Adieu Ali“ gesagt haben. Oder war es nur die weit verbreitete Unsitte, die auch heute noch vorhanden ist,  Menschen türkischer Herkunft mit ihren Vornamen anzureden? Manch einer von ihnen machte Karriere und gelangte zu einem Adelstitel: Ludwig Maximilian Mehmet von Königstreu (1660-1726) ist ein schönes Beispiel hierfür.

Die Einflüsse der türkischen Kultur auf Mitteleuropa, in Folge der osmanischen Kriege, waren außerordentlich. In Architektur, Malerei und Literatur finden sich unzählige Beispiele dafür.

Komponisten, immer darauf bedacht neue Töne und Klänge zu finden, integrierten nicht nur Melodien und Akkorde der osmanischen Musik in ihre Arbeiten, sondern übernahmen auch Musikinstrumente in ihre Orchester. So sind das Becken die Basstrommel und die Glocke bis heute Bestandteil der Symphonieorchester.

Wolfgang Amadeus Mozart verarbeitete sie in seiner Komposition „Rondo alla turka“ und seine Oper „Die Entführung aus Serail“ wurde der Einfachheit halber gleich die „Türkenoper“ genannt. Beethoven bezog türkische Musikinstrumente in seine neunte Sinfonie mit ein.

Die Einflüsse der türkischen Kultur sind heute noch spürbar und sollten in manche gegenwärtige Diskussionen stärker mit eingebracht werden.

]]>
Befreiendes Schauspiel https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/14/befreiendes-schauspiel/ Fri, 14 Sep 2012 14:29:05 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=151

Der Schriftsteller Ahmet Tulgar

Ich sehe nicht regelmäßig fern. Meine Tätigkeit als Schriftsteller lässt mir kaum Zeit dazu. Doch das änderte sich letzten Winter als meine Mutter einen Unfall erlitt und ich eine Zeit lang bei ihr zu Hause blieb. Eines Tages fiel mir auf, dass die Pflegerin meiner Mutter während ihrer Arbeit einen Film im Fernseher nicht aus den Augen lassen konnte. Als sie bemerkte, dass nun auch ich meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm richtete, gab sie mir flüchtig den Hinweis, dies sei die erste Folge einer neuen Serie. Da sie eigentlich arbeiten musste, fühlte sie sich ertappt. Sie lud mich zum Mitschauen ein und bat so gleichzeitig um Verzeihung. Diese Serie sollte dann meine Dienstagabende der nächsten Monate bestimmen.

Ausdrucksstarke Mimik und Gestik als neues Element

Die Polizeiserie „Ucurum“ unterscheidet sich sowohl wegen des Drehbuchs als auch aus technischer Sicht sehr von jeglichen anderen türkischen Serien. So kann ich rechtfertigen, warum ich diese Serie – man kann sagen fast süchtig – verfolge. Der wichtigste Grund, weswegen ich mich mit dieser Serie befasse, ist einer der Schauspieler. Yaman, der Schurke der Serie, hatte mich schon in den ersten Szenen fasziniert. In den weiteren Folgen war dieser Charakter für mich, um es in einer Marketingterminologie auszudrücken, die „unique selling proposition“ (Alleinstellungsmerkmal).

Besagter Charakter „Yaman“, gespielt von Erdal Yildiz, ist ein Schurke, an den sich türkische Film- oder Serienzuschauer nicht so schnell gewöhnen. Er schaut nicht lange und horizontal in die Kamera wie in der sonst üblichen Darstellung von Schurken. Er spricht auch nicht in der typischen tiefen Bassstimme, die jegliche Andeutungen von Bosheit vermissen lässt. Stattdessen spricht er mit einem gebrochenen deutsch-türkischen-Akzent. Höchstwahrscheinlich wurde das Drehbuch um einige deutsche Worte erweitert, nachdem feststand, dass Yildiz diesen Charakter verkörpern würde. Er benutzt sporadisch bestimmte deutsche Worte, während er stets die Züge seines Gesichts und den Ausdruck seines Körpers verändert oder sie mit flüchtiger Mimik und Gestik erweitert.

Bereichernde Andersartigkeit aus Deutschland

Auf diese Weise wurde ich neugierig auf die Geschichte von Erdal Yildiz, dem Darsteller von Yamar, dem Schurken. Ich habe recherchiert. Meint, ich habe „gegoogelt“. Ich stellte fest, dass Yildiz nicht nur Schurken spielt, sondern auch der zärtliche und gut aussehende Macho in der deutsch-türkischen Produktion „Zenne“ war. Yildiz kam mit sechs Jahren gemeinsam mit seiner Familie aus einem kurdischen Dorf der Provinz Dersim (heute Tunceli, Anm. d. Red.) nach Deutschland. In der Stadt, in der sie in Deutschland eintrafen, lebte sonst keine weitere Familie aus der Türkei. Später zog er nach Berlin, um dort Schauspieler zu werden. Als seine Erwartungen nicht erfüllt wurden, schrieb er sich in den USA an einer Schauspielschule ein. Er beendete seine Ausbildung in den USA, kehrte zurück nach Deutschland und binnen Kurzem erhielt er mehrere Jobangebote. Erdal Yildiz, das „enfant terrible“ der deutschen Filmindustrie, ist seit der Saison 2011/12 ein gesuchter Schauspieler für Serien in der Türkei. Die Kritiker finden, er bringe frischen Wind in die türkische Filmbranche.

Die Gründe für diese Ansicht der Kritiker, und auch die Gründe, warum die Zuschauer diesen fiktiven Charakter trotz all seiner Handicaps ins Herz geschlossen haben, sind vielfältig. Da ist zum einen das persönliche Talent des Schauspielers und sein Charisma. Zum anderen ist da seine Andersartigkeit zu nennen, die er sich durch sein alltägliches Leben in Deutschland angeeignet hat und mit der er die Schauspielkunst in der Türkei bereichert.

Aufbrechen traditioneller Darstellungen

Diesen Trend der deutsch-türkischen Schauspieler in der Türkei verfolge ich schon seit geraumer Zeit. Die deutsch-türkischen Schauspieler und Regisseure bereichern den türkischen Filmsektor und das Fernsehen um bisher nicht vorhandene Qualitäten. Ich habe des Öfteren den Scherz angebracht: „Man soll in der Türkei eine Serie mit dem Titel ‚Was guckst du?‘ produzieren.“ Denn in der Türkei werden Serienfolgen oft mit Szenen gestreckt, in denen sich die Protagonisten nur lange gegenseitig anschauen, um so die nötige Sendezeit für die Platzierung von Werbeblöcken zu erreichen. Auf diese Weise bestimmt der profitorientierte Ansatz Fernsehsender die Gestaltung der Serien.

Genau an dieser Stelle revolutionieren die deutsch-türkischen Schauspieler mit ihrer lebendigen Mimik und freieren Gestik diese Gestaltung – und das nicht nur im Fernsehen. Damit brechen sie auch die traditionellen Darstellungen der „Yesilcam“-Verfilmungen auf, die den Zuschauern jahrelang ein eintöniges Schauspielverständnis vorgeführt hatten. [„Yesilcam“ bezeichnet die traditionelle Filmindustrie in der Türkei, Anm. d. Red.] Kurzum, die Individuums- und Körperpolitik eines anderen Landes rüttelt die türkische Schauspieltradition auf.

Individuelle Darstellung stößt gesellschaftliche Debatten an

Ein anderes Beispiel in dieser Hinsicht ist die Nursel Köse, Architektin und eine der bekanntesten deutsch-türkischen Schauspielerinnen. Sie begann ihre Schauspielkarriere in Berlin. Ihre Mimik, die sie während einiger leidenschaftlicher Diskussionen in den Cafés der Stadt zur Schau trug, setzte sie auch in ihrer dritten türkischen Serienrolle ein. Mit ihrer Typisierung der emanzipierten Frau traf sie den Geschmack vieler Darsteller und Kritiker. Das Interesse an ihr wuchs mit ihrer Rolle in dem Film „Yasamin Kiyisinda“ von Fatih Akin, für den sie mit dem Preis von Altin Portakal ausgezeichnet wurde.

Auch wenn ich auf Fatih Akin an dieser Stelle zwar nicht detailliert eingehen werde, muss ich betonen, dass er nicht nur für die Jugendlichen in Deutschland, sondern auch in der Türkei ein Vorbild und eine Ermutigung für diejenigen ist, die Film und Fernsehen studieren möchten. Im Weiteren möchte ich ein anderes „enfant terrible“ des türkischen Films, Birol Ünel, näher beleuchten.

Seine Schauspielertalente im Film „Gegen die Wand“, sein unbändiges Schauspieltalent, seine Offenheit, mit der er dem Zuschauer die Bandbreite seiner Gesichts- und Körperausdrücke ganz frei präsentierte, stilisierte Birol Ünel in der Türkei zu einer einzigartigen Freiheitsikone. Sibel Kekilli hingegen, die ebenfalls in dem besagten Film mitspielte, musste sich gegen die gegen sie gerichteten patriarchalen und moralischen Angriffe zur Wehr setzen. Dadurch gab sie, nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als junge Frau, den Anstoß für eine breite gesellschaftliche Diskussion zum Thema persönliche Freiheiten.

Neue Chancen für den neuen türkischen Film

Als sie 2011 ihren Film „Zenne“ machten, ließen sich die Regisseure Caner Alper und Mehmet Binay von Fatih Akin und dem Thema der Brücke zwischen den Jugendlichen in Deutschland und der Türkei inspirieren. Der Film wurde Ahmet Yildiz gewidmet, der aufgrund seiner homosexuellen Orientierung von seinem eigenen Vater ermordet worden war. Der Film berührte breite Gesellschaftsschichten – weit über die LGBTT-Kreise (Lesbian-, Gay-, Bisexual- und Trans-Kreise) hinaus – und wurde mehrfach ausgezeichnet.

Die Freiheit in Deutschland tut dem türkischen Kino gut. Das trifft auch auf Filmemacher türkischer Herkunft und den türkischen Film- und Schauspielsektor zu. Die Freiheit erweitert nicht allein Horizonte. Sie eröffnet ein breites Feld für Gestik und Mimik, indem sie den Körper der Kontrolle der unsinnigen Moral und der des Regimes entzieht. Das ist die neue Chance, die die türkischstämmigen Regisseure und Schauspieler aus Deutschland für den türkischen Film- und Seriensektor mitbringen.

]]>
Ein Reservat für die Restdeutschen https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/14/ein-reservat-fur-die-restdeutschen/ Fri, 14 Sep 2012 12:06:39 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=79 Ein Ausblick auf die deutsche Kultur im Jahre 2135

Der pandeutsche Bundeskanzler Hans Al Farrag hat zusammen mit der Ministerin für Heimatangelegenheiten, Aysun Eteo, endlich beschlossen, den wenigen noch verbliebenen Menschen rein deutscher Abstammung ein Reservat zuzuweisen. Das Areal erstreckt sich auf wenige 100 Quadratkilometer und befindet sich im Oberland des ehemaligen Bundeslandes Bayern. „Auch wenn sie vom Aussterben bedroht sind, sollten sie in Würde ihren alten Riten und Gebräuchen nachgehen können“, so der Bundeskanzler nach Bekanntgabe des Beschlusses durch das Kabinett. „Sie sollen grundsätzlich in Ruhe leben können, an ausgewählten Tagen darf die pandeutsche Bevölkerung die Restdeutschen bei ihren Gewohnheiten und Sitten betrachten. So soll ausgeschlossen werden, dass die Restdeutschen quasi eine Parallelgesellschaft errichten. Es sei sehr bedauerlich, dass zu diesen Maßnahmen gegriffen werden musste, so die Ministerin, denn diese Menschen hätten in den letzten hundert Jahren viel zur Entwicklung dieses Landes beigetragen, aber darüber hinaus leider vergessen sich weiter fortzupflanzen. Insgesamt werde ihre Anzahl auf knapp 250.000 Menschen geschätzt. Da viele von ihnen 100 Jahre und älter seien, sei die entsprechende medizinische Betreuung zugesichert. Bei der Begrenzung des Lebensalters auf 105 Jahre könnten aber leider auch hier keine Ausnahmen gemacht werden. Letztendlich sei die Dauer des Reservates überschaubar, so dass beim Bau der Unterkünfte auf langlebige Materialien verzichtet werden konnte und die Steuerkasse nur entsprechend gering belastet werden musste.

Heute begehen die Menschen im Reservat Restdeutschland einen ganz besonderen Tag. Sie feiern den Tag des Huhns. Dieser Tag wurde vor achtzig Jahren das letzte Mal feierlich zelebriert. Früher kamen an diesem Tag Millionen von Deutschen zusammen um bei Bier tausende Hühner zu verspeisen, in Tracht und mit Gesang dauerte dieses Fest knapp zehn Tage. Nach dem absoluten Alkoholverbot wurde zwar noch versucht, auch ohne Alkohol dieses Fest zu begehen, aber es mochte keine richtige Stimmung mehr aufkommen, so dass diese zehn Tagen nicht mehr begangen wurden. Jetzt wurde diese alte Tradition im Reservat wieder mit neuem Leben erfüllt. Am ersten Wochenende im Oktober wird ein kleines Zelt errichtet, um gemeinsam Hühner zu verspeisen. Woher diese Sitte stammt, wird von den Ethnologen, die sich intensiv mit den Gebräuchen der Vorfahren der Restdeutschen befassen, nicht einheitlich beantwortet. Die noch lebenden Restdeutschen können sich ob ihres hohen Alters nicht mehr daran erinnern. Auch heute darf kein Alkohol ausgeschenkt werden. Tausende von Besuchern des Reservats waren sichtlich beeindruckt von den Trachten und Kostümen der Restdeutschen.

Deutschland hält den Atem an. Der letzte Restdeutsche Hans Müller hat am heutigen Tag die staatlich begrenzte Lebenszeit von 105 Jahren erreicht. Er sei friedlich gestorben, so die Vollstrecker für den Übergang vom Leben in den Tod. Hans Müller sei ein besonderer Mensch gewesen. Geboren 2028, hatte er sich strikt geweigert eine Frau aus einem anderen Kulturkreis zu nehmen. Alle Bemühungen von staatlicher Seite ihn zur Verbindung mit einer Afro-Deutschen, einer türkischen Schwedin oder libanesischen Spanierin zu veranlassen, scheiterten. Auch zeigte er keine Absichten, Kinder zu zeugen. Er wollte lieber den alten Gewohnheiten seiner Landsleute, ausschließlich zu konsumieren, nachgehen. Aber sein Fleiß und seine meisterliche Abarbeitung seines Lebensplans haben ihm den Respekt auch der Pandeutschen eingebracht. Die Bundeskanzlerin Zulu Mmbo nannte Hans Müller eine tragische Gestalt, ausgestattet mit dem Besten: Bildung, Wohlstand, Fleiß und Pedanterie. Leider hatte er vergessen, dass ausschließlich Kinder die Zukunft der eigenen Art sichern. Er werde aber in guter Erinnerung bleiben, hätten schließlich vor 150 Jahren Millionen seiner Art die Grundlage dafür gelegt, dass in diesem Land Menschen aus vielen Ländern auskömmlich leben können.

]]>
Türken gehen nicht ins Theater https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/14/turken-gehen-nicht-ins-theater/ https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/14/turken-gehen-nicht-ins-theater/#comments Fri, 14 Sep 2012 11:01:54 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=73 Ein Transparent über der Berliner Naunynstraße (Foto: Şirin Manolya Sak)

Die Naunynstraße ohne Türken ...

Türken gehen nicht ins Theater, weil sie bildungsfern sind und sich sowieso nicht für die deutsche Kultur interessieren. Und tatsächlich: Ob im Berliner Wintergarten, der Philharmonie oder der Deutschen Oper – kaum sitzt man auf seinem Platz und lässt den Blick durch die Publikumsreihen schweifen, fällt immer wieder Eines auf: Es sind so gut wie keine Deutschtürken da. Ein bestätigtes Vorurteil?

Nein, denn im Ballhaus Naunynstraße bietet sich seit einigen Jahren ein ganz anderes Bild: In dem Off-Theater in Berlin-Kreuzberg tüfteln Hakan, Neco und Shermin regelmäßig an neuen Stücken. Hier ist es normal, dass Burak, Emel und José neben Lisa und ihrer Mutter Momo sitzen und gemeinsam die Uraufführung der Reihe „Vibrationshintergrund“ beklatschen. Doch was ist im Ballhaus Naunynstraße anders als in anderen Theatern?

Liegt der Erfolg des kleinen Hauses an der Lage im so genannten „Little Istanbul“ in Berlin-Kreuzberg?

Kulturelles Interesse wecken

Das Off-Theater war allerdings nicht immer in aller Munde und so scheint es, als würden für den Erfolg des Hauses andere Faktoren eine Rolle spielen. Das kulturelle Interesse von Menschen zu wecken ist keine Frage der Herkunft weiß Shermin Langhoff, die hinter der Erfolgsgeschichte des Kreuzbergers Ballhaus Naunynstraße steht. Sie war diejenige, die das postmigrantische Theater 2008 am Szene-Theater in Berlin gründete und dafür weit über die Landesgrenzen hinaus auf sich aufmerksam machte.

Für die Theatermacherin steht am Anfang der schleppenden interkulturellen Öffnung an Theatern, die wenig durchdachte Verteilung der Mittel: „Interkulturalität an Theatern beginnt mit ‚PPP‘ – Personal, Programm und Publikum. Alles hängt zusammen. Dort, wo die finanziellen Ressourcen für das Personal gering sind, wird der Zugang von Menschen mit biografischer Interkulturalität und Interreligiosität verlangsamt.“ Das künstlerische Programm wiederum hänge von dem Personal an einem Haus ab, sagt Langhoff. Das Angebot eines Theaters entspringe schließlich aus dem geistigen Gut des Personals und sowohl die Leitung als auch die Dramaturgie müsse echtes Interesse an innovativen Stücken haben. Dem entsprechend müsse die Akquise des Hauses aussehen, fährt sie fort.

Der Zugewinn an interkulturellem Publikum komme dann, laut Langhoff, ganz von alleine: „Es hat nicht unbedingt etwas mit den gleichen ethnischen Wurzeln zu tun, wenn sich der Zuschauer mit der Geschichte oder der Figur in einem Stück identifizieren will. Es geht dabei eher um ähnliche Perspektiven und der Wahrnehmung und Reflektion der eigenen Lebenswelt.“

Vielfalt auf und hinter den Bühnen

Shermin Langhoff, die ihre Arbeit als Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin ab der Spielzeit 2013/14 aufnimmt, spricht sich öffentlich immer wieder für die Förderung von Kunst von und mit Migranten aus. Dabei geht es ihr nicht nur um die Förderung der freien Szene, ganz im Gegenteil – Langhoffs Visionen einer bunten Kulturlandschaft machen nicht vor großen Häusern halt. Sie erhofft sich mehr Vielfalt auf und hinter den Bühnen von Staatstheatern und –opern.

In diesem Zusammenhang erwähnt Langhoff anerkennend die Arbeit ihrer jüdischstämmigen Kollegin an der Berliner Philharmonie, Pamela Rosenberg, die die Reihe „Alla turca“ initiierte. Auch Jürgen Flimm an der Staatsoper hätte ernsthafte Neugier an neuen Wegen in der künstlerischen Darbietung gezeigt und bereits mit Neco Çelik an einer Operette gearbeitet. Gemeinsam mit 22 Jugendlichen brachte der türkeistämmige Film- und Theaterregisseur „Moskau Tscherjomuschki“ von Dmitri Schostakowitsch an die Staatsoper.

„Man kann sich nur wünschen, dass mehr Intendanten wie die geschätzten Kollegen Rosenberg und Flimm an dem Thema festhalten. Dafür ist es allerhöchste Zeit, denn meiner Meinung nach hätte man das postmigrantische Theater auch schon 20 Jahre vor mir machen können. Heute ist das Interesse so groß, dass es fast schon grotesk erscheint: „Vor Kurzem haben sich einige Häuser um die wenigen Künstler migantischer Herkunft gestritten“, erinnert sich Langhoff.

Nachwuchsförderung in der Szene

Besonders die Nachhaltigkeit in der kulturellen Arbeit liegt Langhoff am Herzen und sieht darin auch ihren persönlichen Erfolg. „Mir war es immer wichtig, den Nachwuchs in der Szene zu fördern und somit ganz neue Texte in ganz neuen Stücken zu ermöglichen. Mit tollen Nachwuchskünstlern, wie Hakan Savaş Mican, haben wir erfolgreich inszeniert und einen Grundstein für weitere Schritte gelegt.“

Für Langhoff geht die interkulturelle Arbeit in der Berliner Theaterszene weiter und durch ihr Beispiel wird klar, welchen kulturellen Zugang Theaterstücke von und mit Migranten schaffen. Ganz unabhängig von ethnischer Herkunft, kulturellem Vorinteresse und Schulabschluss der Eltern, kann man Berliner Türken in die Loge locken. Das Vorurteil „Türken gehen nicht ins Theater“ stimmt also nicht. Türken gehen eben nur noch nicht in jedes Theater …

]]>
https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/14/turken-gehen-nicht-ins-theater/feed/ 4