Geschichtsbewusstsein – Treffpunkt https://blogs.dw.com/treffpunkt Vier Kulturschaffende aus Deutschland und der Türkei schreiben über verschiedene Aspekte ihres kulturellen Umfelds Tue, 11 Dec 2012 09:23:30 +0000 de-DE hourly 1 Architektur und Geschichtsbewusstsein https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/25/architektur-und-geschichtsbewusstsein/ Thu, 25 Oct 2012 14:35:27 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=611 Die historische Architektur einer Stadt offenbart viel über die Geschichte eines Landes. Das ist ein Fakt. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn die historischen Bäder und Zisternen nicht durch Bürogebäude oder Parkhäuser verdeckt werden, wie das in Istanbuls historischem Stadtteil Eminönü geschehen ist. Dort wurden hunderte von historischen Gebäuden zugebaut.

Die Architektur der historischen Halbinsel von Istanbul, einzelne Gebäude oder Gebäudefassaden in verschiedenen Stadtteilen erinnern uns jedoch an eine weit zurückliegende Vergangenheit. Sie geben zumindest etwas Aufschluss über die Geschichte. Jedenfalls zeugt die Mehrheit der historischen Gebäude in Istanbul von der Pracht Herrschenden. Sie sind sichtbarer Ausdruck ihrer Macht. Es gibt allerdings keine Gebäude, die auf die Geschichte der Arbeiterbewegung oder andere oppositionelle Bewegungen hindeuten.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich Berlin gravierend von Istanbul. Sobald man bestimmte Stadtteile von Berlin betritt, lässt sich allein durch die Architektur der Wohnhäuser vieles über die Vergangenheit der Stadt herausfinden. Über die Betrachtung dieser Wohnkomplexe kann der Besucher etwas über die lange und bewegte Arbeitergeschichte erfahren. Er kann sich vorstellen, welch harter Klassenkampf sich hier ereignete. All diese Hinweise lassen sich an der Architektur der Arbeiterviertel ablesen – insbesondere an den Massenwohnungen der Genossenschaften, die von Gewerkschaften oder Beamtenbündnissen verwaltet werden beziehungsweise von ihnen errichtet wurden.

Diese Gebäude in Berlin spiegeln das Ästhetikverständnis der Arbeiterklasse wider. Sie verbinden die soziale Ästhetik mit der manchmal auch futuristischen Vision des 20. Jahrhunderts. An den meisten Gebäuden befinden sich Inschriften oder Informationen über die damaligen Organisationen der jeweiligen Klassen- oder Oppositionsbewegungen.

Wenn man sich diese Gebäude anschaut, erinnert man sich an die damalige Solidarität unter den Klassen. An diesen Gebäuden lässt sich erkennen, welche Macht die Bewegung der Arbeiterklasse besaß und welche Errungenschaften gefeiert wurden.

Kann man bei uns in Istanbul solche Gebäude entdecken? Gibt es sie? Wann wurden sie erbaut? Wann wurden sie abgerissen? Der Betrachter sieht hier nichts anderes als die rein funktionalen sozialen Wohnungen, von denen eine geschmackloser ist als die andere. Statt besagter Gebäude gibt es zahlreiche neumodische, nebeneinander platzierte Wohnblöcke, die mit Bankkrediten finanziert werden. Diese Wohnungen sind Produkte einer Gesellschaft, die zerbröckelt und in der Personen vereinsamen. Wo sind denn die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, die Ästhetik der Solidarität sichtbar? Ähnlich wie in Berlin könnte der Einfluss der Arbeiterbewegung oder der Opposition auch hier aussehen – mit einer Strahlkraft auf das alltägliche Leben.

Dann hätte der Arbeiterkampf weitreichende Errungenschaften gehabt und seine Gewinne kämen allen zugute. Die Architektur von Wohnhäusern für die Arbeiterklasse verschönert eine ganze Stadt, hinterlässt den kommenden Generationen Lebensräume, in denen die Zeichen der Zeit, der Respekt vor der Demokratie und eine gesamtgesellschaftliche Geschichtsbewusstsein vererbt werden. So wie in Berlin oder in Wien. So wie in vielen Städten Mitteleuropas.

Vielleicht sind viele Studenten, Künstler oder Politiker, die in diese Wohnungen einziehen, deswegen so kritisch und oppositionell. Umgekehrt spiegelt sich im Bild der Wohnsitze bei uns in Istanbul – abgesehen von wenigen Ausnahmen – der egoistische Leichtsinn der Reichen und die Suche der mittleren oder unteren Klasse nach einer Bleibe wider.

Wir hatten in unserer Geschichte ebenso eine starke Arbeiterbewegung und eine linke Opposition, aber keiner dieser Generationen war es vergönnt, ihre Spuren so deutlich wie bei den Gebäuden in Berlin zu hinterlassen. Das linke Wohnverständnis und das linke Flurbuch beschränkte sich auf die „Übernachthäuser“ – Siedlungen mit primitiven Unterkünften am Rande einer Großstadt.

Zweifellos bin ich auch stolz auf die Süleymaniye Moschee oder auf die Sultan-Ahmet-Moschee. Stolz auf die Silhouette von Istanbul. Mein Haus in Istanbul mag ich auch. Aber wäre es denn nicht schön, Wohnungen mit dem Namen „Mustafa Suphi“ oder Straßen mit den Namen „Hikmet Kıvılcımlı“ zu haben? Das wäre nicht schlecht.

Istanbul wäre eine demokratischere Stadt, die Türkei ein demokratischeres Land.

Die Opposition wäre im alltäglichen Leben zu spüren. Sie könnte immer und immer wieder erinnert werden.

Die Straßen der Stadt würden eines der Realität angemesseneres Geschichtsbewusstsein verbreiten.

Unsere Städte wären ästhetischer.

Die prächtigen Gebäude, die Moscheen oder Paläste würden nicht zwischen den beiden Geschmacklosigkeiten, der Ästhetik des Reichtums und der Ästhetik der Armut, stehen.

Da die Stadtästhetik, das Stadtverständnis demokratischer wären, wären die unbezahlbaren Meisterwerke der Architektur auch nicht so sehr angegriffen.

Die Arbeiterbewegung hat einen großen Nutzen hinsichtlich der Stadtarchitektur.

Glücklicherweise arbeiten hierzulande die Arbeiter noch und sie organisieren sich. Vielleicht werden sie sogar eines Tages auch architektonische Einflüsse auf die Stadt haben. In der Zukunft.

 

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