Istanbul – Treffpunkt https://blogs.dw.com/treffpunkt Vier Kulturschaffende aus Deutschland und der Türkei schreiben über verschiedene Aspekte ihres kulturellen Umfelds Tue, 11 Dec 2012 09:23:30 +0000 de-DE hourly 1 Architektur und Geschichtsbewusstsein https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/25/architektur-und-geschichtsbewusstsein/ Thu, 25 Oct 2012 14:35:27 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=611 Die historische Architektur einer Stadt offenbart viel über die Geschichte eines Landes. Das ist ein Fakt. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn die historischen Bäder und Zisternen nicht durch Bürogebäude oder Parkhäuser verdeckt werden, wie das in Istanbuls historischem Stadtteil Eminönü geschehen ist. Dort wurden hunderte von historischen Gebäuden zugebaut.

Die Architektur der historischen Halbinsel von Istanbul, einzelne Gebäude oder Gebäudefassaden in verschiedenen Stadtteilen erinnern uns jedoch an eine weit zurückliegende Vergangenheit. Sie geben zumindest etwas Aufschluss über die Geschichte. Jedenfalls zeugt die Mehrheit der historischen Gebäude in Istanbul von der Pracht Herrschenden. Sie sind sichtbarer Ausdruck ihrer Macht. Es gibt allerdings keine Gebäude, die auf die Geschichte der Arbeiterbewegung oder andere oppositionelle Bewegungen hindeuten.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich Berlin gravierend von Istanbul. Sobald man bestimmte Stadtteile von Berlin betritt, lässt sich allein durch die Architektur der Wohnhäuser vieles über die Vergangenheit der Stadt herausfinden. Über die Betrachtung dieser Wohnkomplexe kann der Besucher etwas über die lange und bewegte Arbeitergeschichte erfahren. Er kann sich vorstellen, welch harter Klassenkampf sich hier ereignete. All diese Hinweise lassen sich an der Architektur der Arbeiterviertel ablesen – insbesondere an den Massenwohnungen der Genossenschaften, die von Gewerkschaften oder Beamtenbündnissen verwaltet werden beziehungsweise von ihnen errichtet wurden.

Diese Gebäude in Berlin spiegeln das Ästhetikverständnis der Arbeiterklasse wider. Sie verbinden die soziale Ästhetik mit der manchmal auch futuristischen Vision des 20. Jahrhunderts. An den meisten Gebäuden befinden sich Inschriften oder Informationen über die damaligen Organisationen der jeweiligen Klassen- oder Oppositionsbewegungen.

Wenn man sich diese Gebäude anschaut, erinnert man sich an die damalige Solidarität unter den Klassen. An diesen Gebäuden lässt sich erkennen, welche Macht die Bewegung der Arbeiterklasse besaß und welche Errungenschaften gefeiert wurden.

Kann man bei uns in Istanbul solche Gebäude entdecken? Gibt es sie? Wann wurden sie erbaut? Wann wurden sie abgerissen? Der Betrachter sieht hier nichts anderes als die rein funktionalen sozialen Wohnungen, von denen eine geschmackloser ist als die andere. Statt besagter Gebäude gibt es zahlreiche neumodische, nebeneinander platzierte Wohnblöcke, die mit Bankkrediten finanziert werden. Diese Wohnungen sind Produkte einer Gesellschaft, die zerbröckelt und in der Personen vereinsamen. Wo sind denn die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, die Ästhetik der Solidarität sichtbar? Ähnlich wie in Berlin könnte der Einfluss der Arbeiterbewegung oder der Opposition auch hier aussehen – mit einer Strahlkraft auf das alltägliche Leben.

Dann hätte der Arbeiterkampf weitreichende Errungenschaften gehabt und seine Gewinne kämen allen zugute. Die Architektur von Wohnhäusern für die Arbeiterklasse verschönert eine ganze Stadt, hinterlässt den kommenden Generationen Lebensräume, in denen die Zeichen der Zeit, der Respekt vor der Demokratie und eine gesamtgesellschaftliche Geschichtsbewusstsein vererbt werden. So wie in Berlin oder in Wien. So wie in vielen Städten Mitteleuropas.

Vielleicht sind viele Studenten, Künstler oder Politiker, die in diese Wohnungen einziehen, deswegen so kritisch und oppositionell. Umgekehrt spiegelt sich im Bild der Wohnsitze bei uns in Istanbul – abgesehen von wenigen Ausnahmen – der egoistische Leichtsinn der Reichen und die Suche der mittleren oder unteren Klasse nach einer Bleibe wider.

Wir hatten in unserer Geschichte ebenso eine starke Arbeiterbewegung und eine linke Opposition, aber keiner dieser Generationen war es vergönnt, ihre Spuren so deutlich wie bei den Gebäuden in Berlin zu hinterlassen. Das linke Wohnverständnis und das linke Flurbuch beschränkte sich auf die „Übernachthäuser“ – Siedlungen mit primitiven Unterkünften am Rande einer Großstadt.

Zweifellos bin ich auch stolz auf die Süleymaniye Moschee oder auf die Sultan-Ahmet-Moschee. Stolz auf die Silhouette von Istanbul. Mein Haus in Istanbul mag ich auch. Aber wäre es denn nicht schön, Wohnungen mit dem Namen „Mustafa Suphi“ oder Straßen mit den Namen „Hikmet Kıvılcımlı“ zu haben? Das wäre nicht schlecht.

Istanbul wäre eine demokratischere Stadt, die Türkei ein demokratischeres Land.

Die Opposition wäre im alltäglichen Leben zu spüren. Sie könnte immer und immer wieder erinnert werden.

Die Straßen der Stadt würden eines der Realität angemesseneres Geschichtsbewusstsein verbreiten.

Unsere Städte wären ästhetischer.

Die prächtigen Gebäude, die Moscheen oder Paläste würden nicht zwischen den beiden Geschmacklosigkeiten, der Ästhetik des Reichtums und der Ästhetik der Armut, stehen.

Da die Stadtästhetik, das Stadtverständnis demokratischer wären, wären die unbezahlbaren Meisterwerke der Architektur auch nicht so sehr angegriffen.

Die Arbeiterbewegung hat einen großen Nutzen hinsichtlich der Stadtarchitektur.

Glücklicherweise arbeiten hierzulande die Arbeiter noch und sie organisieren sich. Vielleicht werden sie sogar eines Tages auch architektonische Einflüsse auf die Stadt haben. In der Zukunft.

 

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Dolmuş in Berlin https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/23/dolmus-in-berlin/ Tue, 23 Oct 2012 07:18:23 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=571 Dolmuş - öffentliches Verkehrsmittel in Istanbul

Dolmuş – öffentliches Verkehrsmittel in Istanbul

Wenn Zeitdruck mir nicht aufnötigt, eines der zahllosen gelben „Taksis“ zu nehmen, fahre ich in Istanbul „Dolmuş“. Dolmuş heißt „gefüllt“ oder „voll“ und bezeichnet den Zustand, der erreicht sein muss, damit sich dieses einmalige öffentliche Verkehrsmittel in Bewegung setzt: Früher waren das alte amerikanische Straßenkreuzer, heute sind es Kleinbusse, die an ihrer Haltestelle warten, während ein Ordner das Fahrtziel ausruft.

Ist der Wagen voll, geht es los – zwar auf der festgelegten Route, aber dann ist dann alles möglich: Fahrgäste steigen auf freier Strecke aus und das Dolmuş hält, wo immer Fahrgäste es heranwinken.

Dolmuş - typische Istanbuler Kleinbusse

Dolmuş – typische Istanbuler Kleinbusse

Leider stehen viele dieser typischen Istanbul-Phänomene immer wieder mal zur Disposition, sind akut bedroht oder verschwinden ganz aus dem Stadtbild. Und so steht auch die Abschaffung des Dolmuş immer wieder mal auf der Agenda. Sogar die legendären „Schwäne Istanbuls“, die Bosporus-Dampfer, sollten einmal abgeschafft werden. Nach Protesten hat man ihre Zahl dann aber sogar erhöht und im Internet über das Design der neuen Dampfer abstimmen lassen.

Und die Tische und Stühle vor den Kneipen des Istanbuler Stadtteils Beyoğlu sind fast völlig verschwunden, die ehemals belebten Gassen leergeräumt. Als ich nach den Jahren, die ich in meiner Kindheit und Jugend in Istanbul verbracht hatte, zum Studieren nach Berlin kam, vermisste ich dort genau dieses Leben unter freiem Himmel, das so typisch für Istanbul war. Das Leben in Berlin fand ‚Drinnen‘ statt. In meiner Studentenkneipe diskutierte man an einem warmen Sommerabend sogar, ob man die Kneipentür öffnen solle oder nicht … sie blieb geschlossen.

Heute stellt in Berlin jede Würstchenbude ein paar Bänke auf den Gehweg und die Stadt ist Ort einer gastronomischen Freiluftkultur. Diese sommerliche Lebensfreude haben wir von unseren Italien-, Spanien-…  und Türkeireisen mitgebracht – nach nunmehr über einem halben Jahrhundert fröhlichen und friedlichen Reisens in Europa.

Vieles aber, was Istanbul von anderen Metropolen abhebt, verschwindet nach und nach – so werden zum Beispiel auch die fliegenden Händler immer weniger … Dabei ist Istanbul nicht nur Topkapi-Palast, Hagia Sophia und Großer Basar, so wenig wie man Berlin nur auf Brandenburger Tor, Museumsinsel und KaDeWE zu reduzieren kann. Städte erhalten ihr Gesicht gerade auch durch die unterschiedlichen Farben ihrer Alltagskultur.

Aber „Stadt“ ist ein Prozess permanenter Veränderung, in dem auch immer wieder Neues entstehen kann – und wenn es nur eine Ausnahme ist: Nach einem langen Abendessen bei Freunden in Berlin ging ich runter an die Straße, um ein Taxi anzuhalten. Aus Istanbuler Gewohnheit hatte ich mir keines rufen lassen. Nach langem Warten an der nächtlich leeren Straße hielt neben mir ein Taxi. Die gelbe Lampe auf dem Dach und das Taximeter waren ausgeschaltet, auf dem Beifahrersitz saß bereits ein Passagier.

Dolmuş in Istanbul

Dolmuş in Istanbul

„Ich setze den Fahrgast weiter vorne ab, aber sie können ja schon einsteigen“, bot der Fahrer an. Als wir später alleine weiterfuhren, nannte er mir einen recht günstigen Festpreis – unter der Bedingung, dass er weitere Fahrgäste mitnehmen dürfe. Dann erläuterte er mir sein Geschäftsmodell: „Statt nachts irgendwo lange rumzustehen bis jemand kommt, sammle ich unterwegs und an den Haltestellen die Leute ein – für ein paar Euro oder so … Die haben nämlich keinen Nerv zu warten, bis irgendwann ein Nachtbus kommt.“

„Ich glaube, sie haben hier in Berlin das Dolmuş erfunden“, war meine verblüffte Reaktion und statt zu fragen, was das sei, war seine Antwort: „Nee, das hab ich in Istanbul gesehen.“

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Atelier Karaköy https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/18/atelier-karakoy/ Thu, 18 Oct 2012 12:01:19 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=513 "Overview O" in der Universität Mannheim

„Overview O“ in der Universität Mannheim

Hoch ragen die Pylone von zwei Bosporus-Brücken in den Istanbuler Himmel – als weithin sichtbares Symbol für die Dynamik der Stadt. Jedoch steht man auf ihnen meist im Stau. Das einzelne Schiff auf dem Wasser ist im Vergleich dazu unauffällig im Gesamtbild der Stadt. Doch es ist sehr effizient, denn es fährt unabhängig vom stockenden Verkehr.

Und oft sind es auch die kleineren Initiativen, die nicht so weit sichtbar aus dem Gesamtbild herausragen wie die großen Institutionen, aber dennoch äußerst effizient sind und ganz wesentliche – oder gar die wesentlichen – künstlerischen Brücken bauen …

Der Projektraum „Caravansarai“ der amerikanischen Künstlerinnen Julie Upmeier und Anne Weshinskey ist offenes Atelier und Künstlerresidenz – ein Labor für künstlerische „Produktion, für Experiment, Zusammenarbeit und Inspiration“, wie beide sagen. Folglich ist eines der nächsten Projekte auch das „Perşembe Pazarı Project“ – ein Festival wie auch Ausstellungen in den umgebenden Gassen, in denen unzählige Werkstätten und Läden mit technischem Kleinhandel liegen. Im Residenz-Programm des Caravansarai arbeiten Künstler aus aller Welt, darunter waren bisher Tamico Thiel aus München und die Berlinerin Ellinor Euler.

Bei meinem Besuch genieße ich das Privileg, mit Julie Upmeier und Anne Weshinskey auf der Dachterrasse des Gebäudes den glutroten Sonnenuntergang hinter der Süleymaniye Moschee zu genießen … und dessen Spiegelung auf dem Wasser des Goldenen Horns.

Der Caravansarai liegt in der Banka Sokak in Karaköy, einem quirligen Gewerbeviertel ‚auf der Ecke zwischen Bosporus und Goldenem Horn. Auch hierher hat die Kunst inzwischen einen Fuß gesetzt. Erste Galerien lassen sich zwischen Läden mit Kugellagern und Bootsmotoren, in Nachbarschaft von Schweißern und Schlossern nieder. In Deutschland gibt es diese Form des kleinteiligen, nach Branchen sortierten, Gewerbes längst nicht mehr. Für die deutsche Künstlerin Anna Heidenhein ist Karaköy deshalb ein Art-Space eigener Art: Das ganze Viertel ist ihr Atelier, denn sie arbeitet mit den denkbar unterschiedlichsten Materialien.

Wie für den Maler seine Palette die Vielzahl der farblichen Möglichkeiten darstellt, verkörpert für Anna Heidenhain das Gewirr von Handwerkergassen in Karaköy die Palette der technischen Möglichkeiten bei ihren künstlerischen Projekten. Zur Verwirklichung ihrer großen, wandgebundenen Arbeit „Overview O“ an der Universität Mannheim beispielsweise, arbeitete sie mit über zehn verschiedenen Werkstätten in Karaköy zusammen. „Diese Arbeit hätte man in Deutschland gar nicht herstellen können“, sagt die Künstlerin, die seit über fünf Jahren in Istanbul arbeitet und lebt. Und so ist jenes Kunst-am-Bau-Projekt in Mannheim also „Made in Karaköy by Anna Heidenhain“.

"Overview O"

„Overview O“ in der Universität Mannheim

Sie ist aber nicht nur eine deutsche Künstlerin in Istanbul, zugleich repräsentiert sie „Nüans“, ein interdisziplinäres Künstler-Projekt, das sie gemeinsam mit Maki Umehara und Elmar Hermann in Düsseldorf gründete. Inzwischen haben die drei Künstler in unterschiedlichsten Städten Projekte realisiert, auch davon abhängig, wo sie sich gerade aufhalten. So waren sie bei Beginn der Produktion ihres Buches „Apogee“ jeweils gerade in Florenz, in Mumbay und auf dem Weg nach New York. Das nun fertige Buch über ‚Inseln und Isolation‘, über künstlerisches Arbeiten außerhalb des vertrauten Kontexts, präsentierten sie dann aber unter anderem auch in Istanbul: auf einer Bootsfahrt auf dem Bosporus.

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42 Jahre Stammkunde https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/09/42-jahre-stammkunde/ Tue, 09 Oct 2012 12:51:33 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=467 Ich war elf Jahre alt, als ich das erste Mal durch diese Tür trat. Während meine Mutter an der Kasse bezahlte, wühlte ich mit voller Begeisterung durch die ausgelegten Bücher. Ein alter, freundlicher Mann streichelte meine Haare und gab mir somit das Zeichen einer Freundschaft, die sich in den nächsten Jahren entwickeln sollte. Türk Alman Kitapevi, die türkisch-deutsche Buchhandlung befindet sich auf einer der wichtigsten Straßen in Istanbul, Richtung Tunnel. Sie ist die wichtigste Quelle für deutsche Literatur in dieser Stadt. Diese Buchhandlung sollte für den Rest meines Lebens eine der am häufigsten besuchten Orte für mich werden. Meine Beziehung zu dieser türkisch-deutschen Buchhandlung, die mit dem Kauf von Lehrbüchern begann, beläuft sich mittlerweile auf 42 Jahre. Selbst als ich in Haft war, wurde diese Beziehung nicht unterbrochen.

Das erste belletristische Buch, das Franz Mühlbauer mir schick verpackte, war das Buch „Emil und die Detektive“ von Erich Kästner. Wenn ich nun einen Blick auf meine Bibliothek werfe, stelle ich fest, dass ich die Hälfte meiner Bücher bei Familie Mühlbauer eingekauft habe. Anfangs bei Franz, dann bei Joseph und Thomas Mühlbauer. Fangen wir bei Franz Mühlbauer an. Diesen Mann mit harter Schale und weichem Kern mochte ich sehr.

Er kam als Zirkusmitarbeiter nach Istanbul. Da ihn diese Stadt tief beeindrucke, verabschiedete er sich von seiner Heimat Österreich, die in der Nachkriegszeit mit ökonomischen Problemen zu kämpfen hatte. Anfangs arbeitete er in der Buchhandlung einer alten Dame. Als diese krank wurde, benötigte sie einen Pfleger. Also gaben sie eine Kleinanzeige auf, auf die sich eine junge Frau aus Deutschland meldete. Nach ihrer Ankunft und dem Beginn ihrer Arbeit bei der alten Dame heiraten Franz und Marlene. Sie bekommen drei Kinder. Franz eröffnet die türkisch-deutsche Buchhandlung im Tunnel. Doch im Laufe der Zeit erlebt das Paar Probleme. Marlene und die drei Kinder kehren nach Deutschland zurück. Im Jahre 1991 endet das Leben von Franz Mühlbauer aufgrund eines Herzinfarkts.

Bis 1991 hatten wir Schüler uns viel mit Herrn Mühlbauer unterhalten. Viele Schüler des österreichischen oder deutschen Gymnasiums kamen getrieben durch den Lehrplan in seine Buchhandlung. Doch nicht jeder wurde Stammkunde bei ihm. Herr Mühlbauer wusste, dass die Liebe zu den Büchern oder der Literatur nicht bei jedem nachhaltig war. Er mochte diejenigen Schüler besonders gern, die bei ihm auch nach Schulabschluss Bücher kauften. Dabei hatte er keine kommerziellen Hintergedanken. Das konnte man von seinen Augen ablesen.

Als ich in die Sekundarstufe kam, bestellte ich immer mehr literarische Bücher als Lehrbücher. Als ich anfing zu studieren, kamen parallel zu den damaligen politischen Ereignissen immer mehr sozialkritische, politische oder philosophische Bücher auf meine Bücherliste. Ich bestellte Bücher von Habermas oder Benjamin aus Deutschland. Wenn das Buch ankam, riefen Herr Mühlbauer oder seine Mitarbeiter bei uns an. Ich rannte dann regelrecht in die Buchhandlung auf der Istiklal Straße. Zugegeben, damals sah man in den linken Kreisen, zu denen ich auch gehörte, die Lektüre von theoretischen Büchern nicht so gerne. Jetzt ist es natürlich ganz anders.

Während meines Wehrdienstes stellte ich wöchentlich eine Büchereinkaufsliste zusammen, kaufte diese an meinen freien Tagen bei Herrn Mühlbauer und arbeitete während dieser Zeit als Dolmetscher für deutsche Ingenieure. Als ich sie dann nach Istanbul begleitete, überzeugte ich sie zuerst davon die türkisch-deutsche Buchhandlung zu besuchen, um sie anschließend zu den Teppichläden nach Nuruosmaniye zu fahren.

Als ich in Haft saß, gab ich meine Bücherbestellungen meiner Mutter. Die finanziellen Mittel in der Haft waren natürlich sehr begrenzt und ich konnte die deutsche Literatur nicht tagtäglich verfolgen. Aber gute Literatur ist sowieso zeitlos. Meine Mutter brachte mir alle zwei Wochen die Bücher und übergab sie den Direktoren der Haftanstalt. Diese prüften sie dann, obwohl ich nicht wirklich weiß wie. Nach der Prüfung übergaben sie mir dann nur einen Teil der Bücher. Den Rest habe ich nach meiner Freilassung erhalten.

Nach dem Tod von Herrn Mühlbauer kamen Joseph und Thomas Mühlbauer nach Istanbul, um die Bücherei zu verwalten. Joseph interessierte sich viel mehr für das Meer, sodass Thomas das ganze Geschäft übernahm. Auf diese Weise haben wir uns auch kennengelernt.

Als ich kürzlich mit dem Team der Deutschen Welle in diesem Laden war und zwischen den Regalen spazierte, fielen mir wieder viele Erinnerungen ein. Dieser Laden bedeutet mir unendlich viel. Bei der Gelegenheit ist mir auch etwas aufgefallen: Von allen Büchern von Thomas Mann und Thomas Bernhard, habe ich ein Exemplar in meiner eigenen Bibliothek. Ich musste einfach grinsen.

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Bosporus https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/08/bosporus/ https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/08/bosporus/#comments Mon, 08 Oct 2012 12:22:03 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=441 BosporusWenn ich mit Şara Sayın auf der Dachterrasse ihres Hauses stehe, mit dem herrlichen Blick auf die weite Wasserfläche des Bosporus und seine Ufer, dann wird mir jedes mal klar, dass diese Stadt eigentlich keine richtige „Mitte“ hat. Gut, es gibt die historische Altstadt-Halbinsel und es gibt die „neue“ Altstadt Beyoğlu mit dem Tünel- und dem Taksim-Platz und auf der asiatischen Seite die Bağdad Caddesi. Und das sind auch Zentren für Kultur oder Kommerz oder auch für beides. Doch die eigentliche „Mitte“ der Stadt ist das Meer.

Es ist der Bosporus, der diese gigantische Stadt in zwei Hälften teilt und gleichzeitig miteinander verbindet. Was für eine andere Form von Teilung in einer Stadt, als die Teilung Berlins durch eine Mauer während meiner Studienzeit dort. Und auf dem Wasser verbinden die Schiffe – nicht die Tanker und Container-Frachter, sondern die „Schwäne Istanbuls“, die weißen Bosporus-Dampfer, die zwischen den Stadthälften hin und her gleiten. Die Meerenge ist also nicht nur pittoresker Teil der Landschaft Istanbul, sondern auch wichtiger innerstädtischer Verkehrsweg.

Fliegender Händler mit "Simit"Bei schönem Wetter sitze ich an Deck eines Dampfers und trinke meinen Tee, bei schlechtem Wetter sitze ich drinnen und trinke meinen Tee, immer mit dem Blick auf das Wasser, auf die atemberaubende Silhouette der Stadt und ihre beiden Ufer. Zum Tee gehört ein „Simit“, ein knuspriger Sesamkringel. An allen Schiffsanlegern wie auch fast allen anderen Haltestellen stehen fliegende Händler und verkaufen, was der Istanbuler als Proviant braucht, auf dem teils langen Weg zur Arbeit. Und bei Regen warten Schirm-Verkäufer, die dann bei Sonnenschein mit Sonnenbrillen handeln. Dazu gesellen sich Schuhputzer, Los- und vor allem Teeverkäufer. Denn auch die Händler selber trinken Tee beim Warten und machen lautstark auf sich aufmerksam. Die Ware findet hier den Käufer.

BosporusVor Kurzem sprach mich bei der Überfahrt von Kadıköy nach Karaköy ein alter Mann auf „Gastarbeiter-Deutsch“ an, jenem Idiom aus einfachstem Deutsch mit türkischer Aussprache, das die erste Generation der türkischen Einwanderer zum Teil noch heute spricht. Manchmal wirft man ihnen ja vor, sie hätten versäumt, richtig Deutsch zu lernen. Doch seien wir ehrlich, was ist eigentlich aus unseren eigenen Italienisch-, Griechisch-, Spanisch- oder gar Türkischkursen geworden, die wir abends nach der Arbeit zu bewältigen hofften? Es begann die übliche Konversation:

„…Deutschland? …welche Stadt? …erste mal Türkei?“

Nachdem ich Rede und Antwort gestanden habe, erzählt er über sich. Ein Sohn lebt in Istanbul und arbeitet bei einer Bank, ein anderer Sohn ist Rechtsanwalt in Nürnberg. Er selber lebt seit über 40 Jahren – zunächst als Gastarbeiter ganz und seit der Rente teils – in Deutschland und in den Sommermonaten in Istanbul, er pendelt somit zwischen seinen beiden Welten wie unser Dampfer zwischen europäischem und asiatischem Ufer des Bosporus.

Bosporus-DampferWenn irgend möglich benutze ich zur Fortbewegung den Dampfer, eine der Barkassen oder miete eines der kleinen Tucker-Boote. Und wenn die Zeit reicht, mache ich sogar einen Umweg, um mich auf dem Wasser bewegen zu können: Statt zum Beispiel in 10 Minuten mit der Straßenbahn von Kabataş nach Karaköy zu fahren, setze ich erst nach Üsküdar über um dann von dort mit dem Schiff zurück ans europäische Bosporus-Ufer nach Karaköy zu fahren – für eine entspannte Dreiviertelstunde mit dem Teeglas in der Hand im Zickzack auf dem Wasser. Öffentlicher Personenverkehr als Schiffsausflug, in welcher deutschen Stadt ginge das schon?

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