Türkei – Treffpunkt https://blogs.dw.com/treffpunkt Vier Kulturschaffende aus Deutschland und der Türkei schreiben über verschiedene Aspekte ihres kulturellen Umfelds Tue, 11 Dec 2012 09:23:30 +0000 de-DE hourly 1 Hochzeitsbräuche in Oberbayern und Anatolien https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/22/hochzeitsbrauche-in-oberbayern-und-anatolien/ Mon, 22 Oct 2012 10:38:15 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=563 Wer je eine Hochzeit in Oberbayern besucht hat, braucht vor einer türkischen Hochzeit keine „Angst“ zu haben! Du weißt, dass du Türke bist, wenn du die meisten der Gäste auf deiner eigenen Hochzeit nicht kennst. Diese Formulierung wird gerne benutzt um den Deutschen ein wenig ironisch die türkische Kultur des Heiratens zu erklären. Aber die wenigsten von ihnen haben wohl schon einmal eine traditionelle Hochzeit in Oberbayern erlebt. Denn hier gilt das gleiche wie oben beschrieben. Wenn auch nur auf dem Dorf.

Bei einer typisch bayerischen klopft zunächst einmal der „Hochzeitslader“ an die Tür. Der in Bayern übliche Hochzeitslader unterstützt das Brautpaar bei der Planung und Durchführung der Hochzeit. Er bringt sich aktiv in die Feier ein und ist oft auch eine Art Moderator der Feier. Der Begriff Hochzeitslader stammt aus der Zeit, als Papier noch sehr teuer war und eine Person daher von Tür zu Tür ging und die Gäste mit einem Vers zur Hochzeit eingeladen hat. Der Brauch wird auch heute noch gepflegt. Auf seinem Rundgang durchs Dorf hat der Hochzeitslader immer einen mit Bändern verzierten Stock dabei. Die Farben der vier Bänder symbolisieren Liebe (rot), Treue (blau), Hoffnung (grün) und Jungfräulichkeit (weiß).

Im Dorf wird jeder eingeladen. Es ist auch erwünscht, dass jeder kommt. Dabei ist es oft  Brauch, dass die Gäste ein Bescheid-Tüchlein zur Hochzeit mitbringen. In dieses Tuch ist ein beliebiger Geldbetrag als Beitrag zur Hochzeitsfeier eingewickelt. Am Ende der Feier erfüllt das Tüchlein dann einen weiteren Zweck. Die Gäste dürfen sich darin die Essenreste einpacken und diese mit nach Hause nehmen.

Als ich zum ersten Mal eine türkische Hochzeit besuchte, war ich überwältigt. Meine Frau und ich waren zur Hochzeit eines türkischen Kollegen eingeladen. Auch hier gibt es viele Traditionen und Gebräuche. Wir kamen zum Beispiel nicht pünktlich zur angegebenen Uhrzeit an – soviel hatte ich bis dahin schon gelernt. Kein Türke kommt pünktlich. Aber dass die angegebene Adresse stimmt, hatte ich zunächst nicht glauben wollen: Das Fest fand tatsächlich in einem großen städtischen Gemeindezentrum statt. Im Saal befanden sich dann um die 1.000 Gäste. Der Kleidungsstil war sehr unterschiedlich: Vom edlen Outfit bis zum Sportdress war so ziemlich alles dabei.

Es wurde ein langes Fest. Mit dem Brautpaar sprachen wir nur geschätzte 60 Sekunden. Es war eine kurdische Hochzeit. Da war es selbstverständlich, dass jeder, der das Brautpaar kannte, einfach mal vorbei kam und auch bewirtet wurde. Auch die Geschenke waren typisch kurdisch: Ich heftete dem Bräutigam, wie alle anderen auch, einen Geldschein an den Anzug. Unser mitgebrachtes Geschenk ließen wir in der Tasche stecken.

Deutsche und Türken leben nicht in abgeschotteten Kulturen. Sie haben viel mehr gemeinsam als sie selbst wissen wollen. Jeder reklamiert für sich, dass die eigenen Gebräuche, Werte und Sitten einzigartig seien. Nun kennen viele Deutschen ihre eigene Kultur nicht. Ob das bei den Türken auch so ist, dieses Urteil steht mir nicht zu. Aber bevor wir Deutsche in den Hof des anderen schauen, sollten wir erst einmal in unseren eigenen schauen. Aber ein Blick von der „anderen Seite“ ist auch wünschenswert.

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Vom Mitgefühl und der Liebe im Straßenverkehr https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/21/vom-mitgefuhl-und-der-liebe-im-strasenverkehr/ https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/21/vom-mitgefuhl-und-der-liebe-im-strasenverkehr/#comments Sun, 21 Oct 2012 07:28:06 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=521 Einen Tag vor meiner Abreise nach Istanbul sitzen ein Freund und ich in einem Café in der Berliner Oranienstraße und schauen dem Regen zu. In Istanbul war es zu dieser Zeit schon 30 Grad warm. Durch die Fenster beobachten wir die Autos auf den nassen Straßen. Alles fährt und bewegt sich gleichmäßig in einem ruhigen Fluss. Plötzlich gerät der Verkehr ins Stocken. Ein Kleinwagen hat mitten auf der Straße gehalten und hinter ihm staut sich der Verkehr. Vor dem Kleinwagen ist alles frei. Warum hält er? Aus Liebe!

Denn in dem Wagen ganz vorne küssen sich ein junger Mann und eine junge Frau aus der Türkei. Fast könnte man annehmen, dass sie gerade Sex haben. Die Fahrer aus den hinteren Autos tun nichts. Keiner hupt. Keiner schreit aus dem Autofenster. Sie warten. Sie warten, bis die Erregung abnimmt. Vielleicht hört der Regen nicht so schnell auf, aber die Lust wird wohl vergehen. Sie warten. Das junge Paar gibt sich dem Moment der Liebe hin, sie huldigen der Liebe. Hier halten Autofahrer für die Liebe an. Da wir sonst nichts anderes zu tun haben, zählen mein Freund und ich die Minuten. Es sind bereits mehr als fünf Minuten vergangen. Mittlerweile ist der junge Mann aus dem Kleinwagen ausgestiegen, doch das Auto bewegt sich immer noch nicht und der Stau wird immer länger. Als der junge Mann merkt, dass sie nicht weiterfährt, kommt er zurück und beugt sich mit dem halben Körper durch das Fenster ins Auto und schmeißt sich wieder an ihre Lippen. Dann kommt er wieder zum Vorschein, dreht sich um und entfernt sich. Auch der Kleinwagen bewegt sich endlich. Lust und Aufregung vor unserem Café kommen wieder zur Ruhe. Alle Autos setzen sich nun in Bewegung und der Verkehr läuft sofort normal weiter. Es regnet immer noch.

Ich frage mich, wie Autofahrer in der Türkei auf eine ähnliche Situation reagieren würden. Dazu fällt mir ein „typisch türkisches Fahrverhalten“ ein. Um voranzukommen würden sie sofort versuchen den Kleinwagen zu umfahren Die meisten Autofahrer in der Türkei riskieren alles, um andere Autos zu überholen, und mindesten einen Wagenabstand Vorsprung zu bekommen. Dadurch gefährden sie sich nicht nur selbst, sondern auch die anderen Fahrer. Und wozu das Ganze? An der nächsten Brücke, der nächsten Ampel, Stau oder Mautstelle, stehen sie doch alle wieder nebeneinander.

Dieses gefährliche Verhalten der Fahrer im Straßenverkehr ähnelt der Einstellung vieler Bürger zu ihrem Land. Ohne Rücksicht auf Andere, ohne Solidarität mit den eigenen Landsleuten oder Mitmenschen, beutet jeder Jeden aus. Man nutzt die Situation oder die Umstände aus wo man nur kann. Man denkt an den eigenen Vorteil ohne nur einen einzigen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden.

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Wie ich den deutschen Sprachraum entdeckte https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/01/wie-ich-den-deutschen-sprachraum-entdeckte/ Mon, 01 Oct 2012 10:30:55 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=377 Im Sommer 1970 hatte ich die Aufnahmeprüfungen bestanden und wurde in eins der renommiertesten Gymnasien des Landes, und zwar in das österreichische Sankt Georgs Kolleg, aufgenommen, welches seit 1882 besteht. Damals war ich 11 Jahre alt. Doch eines konnte ich mit meiner kindlichen Vernunft schon begreifen: Die europäische Kultur, der sich die türkische Republik schon seit ihrer Gründung und davor zuwendet und von der sie ein Teil werden möchte oder vielleicht von Zeit zu Zeit bereits ein Teil geworden ist – in Form von einer Gegenidentifikation – diese europäische Kultur würde eine bedeutende Rolle in meinem Leben spielen. Und so geschah es auch.

Anfangs hatte das Land Österreich für mich verschiedene Bedeutungen: Es war das Land, in dem meine Lieblingsrockgruppen ihre Schallplatten gleichzeitig wie in den angelsächsischen Ländern auf den Markt brachten; das Land, in dem ich meine Lieblingsbücher oder Zeitschriften günstiger kaufen konnte; das Land, in das wir mit der Schule jedes Jahr in einem Bus fuhren und das wir nach 30-stündiger Fahrt erreichten und zwei Wochen lang eine schöne Zeit verbrachten – jedoch unter Aufsicht unserer Lehrer … Damals waren das Ausreisen aus der Türkei nicht so einfach. Also war das Land Österreich für uns Halbwüchsige, die es aus dem Land geschafft hatten, das wunderbare Land, in dem wir die Kosmetikbestellungen unserer Mütter erledigen konnten.

Zur gleichen Zeit begannen wir im Deutschunterricht mit unserem Lehrer Stephan Unterberger das Buch „Wesen und Werden der deutschen Dichtung“ zu lesen und ich begriff sehr schnell, wie wir über Sprache und Literatur ein Teil des gemeinsamen Menschheitsabenteuers wurden. Einerseits konnte ich mithilfe der deutschen Sprache sowie der deutschen Literatur mein Land mit Abstand und mit anderen Augen betrachten. Andererseits konnte ich dadurch sowohl die Unterschiede aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und der Türkei, oder besser formuliert, zwischen dem deutschsprachigen Gebiet und der Türkei, sehen. Ich konnte mich beiden Gebieten mit Einfühlungsvermögen annähern. Auf diese Weise erhielt ich zwei Heimatländer. Wenn ich in dem einen lebte, vermisste ich das andere. Meine eine Heimat war die Türkei und die andere der deutsche Sprachraum. Ich nenne es den „deutschen Sprachraum“, denn der Lehrplan des österreichischen Sankt Georgs Kolleg kann einen Schüler genau so gut in den österreichischen wie auch in den deutschen Sprachraum integrieren.

Natürlich habe ich in der Schule ziemlich viel über Österreich und Deutschland erfahren. Meine Neugier hielt in den folgenden Jahren an. Und vielleicht habe ich den deutschen Sprachraum aus bester Quelle erlernt: aus der Literatur.

Thomas Bernhard gilt meine Liebe. Genau so wie Thomas Mann und Heinrich Mann. Bernhard beschrieb das gesellschaftliche Trauma, das nach der geografischen Verkleinerung des österreichischen Reiches auftauchte. Ich habe lange darüber nachgedacht. Nach Bernhards Anmerkungen habe ich das österreichische Theater, die Operette und die Oper besucht. Um eben dieses Trauma zu überwinden, wählte Österreich diesen Weg aus: Die aktuellen emotional-historischen Komplexe sollten auf der künstlerischen Bühne reproduziert und aufgeführt werden. Vielleicht ist auch aus diesem Grund die Wahl des Leitungsteams des Burgtheaters in Wien für das Volk genauso wichtig wie die Wahlen zum Präsidentenamt.

Das türkische Volk lebt mit demselben Trauma. Das Trauma des Herabsteigens von der Weltmacht hinunter auf die Dritte-Welt-Kategorie. Die unaufhörliche Spannung zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen. Aber man kann nicht mit Traumata weiterleben. Oder wie der Held meines neuen Romans es behauptet „Wir sind das, was wir aufgrund unserer Traumata geworden sind“. So hat die Türkei das Trauma des Herabsteigens von einer Weltmacht überstanden, indem sie in der Lage ist, eine ganze Straße, oder, wenn es sein müsste, ein ganzes Land sofort in eine Theaterbühne zu transformieren. Diese Fähigkeit der türkischen Republik hat sicherlich zu der Entstehung des soziologischen Phänomens, das ich Formalismus nenne, beigetragen.

In dieser Hinsicht ist Deutschland ein fruchtbares Land was seine Kultur, Kunst sowie Literatur angeht und meiner Meinung nach bodenständig. Trotz seiner besonderen Fähigkeiten von Form bis zur Funktion, sei es eine Maschine oder Architektur, konzentrierte sich das Land auf andere Inhalte. Es scheint, dass Deutschland ein Land ist, welches mit sich selbst in Frieden ist. Es ist ein Land, welches nach seiner Vergangenheit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der daran anschließenden Konfrontation, also nach so einem Trauma, eine demokratische und pluralistische Weltsicht hervorbringen konnte. Dieser Fähigkeit verdankt es sein Wachstum. Deutschland ist ein Land, in dem gutes Theater auf die Bühne kommt und in dem Theater geschützt und gefördert wird.

Aber wie schon gesagt, ich bin in beiden Ländern zuhause. Sowohl in der Türkei als auch im deutschen Sprachraum. Zwar ist die jeweilige geografische Lage unterschiedlich, jedoch der jeweilige Platz in meinem Leben gleich.

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Spurensuche https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/26/spurensuche/ Wed, 26 Sep 2012 09:29:51 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=321 Das „integrierte“ Leben der Beutetürken

Ob der Islam nun zu Deutschland oder nicht gehört darüber wurde ausreichend diskutiert. Aber dass die Menschen mit türkischen und muslimischen Hintergrund zu Deutschland gehören, steht außer Frage.

Die Türken, die als Gäste in den sechziger Jahren nach Deutschland kamen, waren beileibe nicht die Ersten. Vor ihnen waren schon die Beutetürken da gewesen. Das waren die Türken, die in den osmanischen Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts gefangen genommen und nach Deutschland und Österreich verschleppt worden waren. Es war wahnsinnig schick, sich an seinem Hof einen Türken zu halten. Ob Kammer- oder Hoftürke, sie waren beide Beutetürken.

In Deutschland regierte das Prinzip „cuius regio, eius religio“. Mit anderen Worten: Das, was der Chef glaubte, mussten auch die Untertanen glauben. Da noch keine Demokratie herrschte, wurden die Beutetürken zwangsweise einem intensiven Unterricht in deutscher Sprache und christlicher Religion unterzogen. Dann wurden sie getauft. Diese Türkentaufen sollen ein großer Spaß gewesen sein – für das Publikum. In ihrer Beliebtheit hatten sie einen ähnlichen Stellenwert wie die Vollstreckung von Todesstrafen und das Verbrennen von Hexen. Der Türke musste zwar vor seiner Taufe ausrufen, dass er ein „Türk“ und ein verdammter Mensch sei, das war es dann aber auch schon, denn das christliche Weihwasser erlöste ihn dann von seinem jämmerlichen türkischen Zustand. So einfach war das damals mit der Integration. Mit ihren eigenen Untertanen gingen die Herrschenden auch nicht weniger zimperlich um.

Ali und Hassan zum Beispiel verschlug es in das Charlottenburger Schloss in Berlin. Sie hießen nun Friedrich Ali und Friedrich Wilhelm Hassan. Die Königin soll sehr liebevoll mit den beiden, die ihre Diener waren, umgegangen sein. Sie erhielten in der Schlossstraße ein Freihaus. Zum Abschied soll sie immer „Adieu Hassan, Adieu Ali“ gesagt haben. Oder war es nur die weit verbreitete Unsitte, die auch heute noch vorhanden ist,  Menschen türkischer Herkunft mit ihren Vornamen anzureden? Manch einer von ihnen machte Karriere und gelangte zu einem Adelstitel: Ludwig Maximilian Mehmet von Königstreu (1660-1726) ist ein schönes Beispiel hierfür.

Die Einflüsse der türkischen Kultur auf Mitteleuropa, in Folge der osmanischen Kriege, waren außerordentlich. In Architektur, Malerei und Literatur finden sich unzählige Beispiele dafür.

Komponisten, immer darauf bedacht neue Töne und Klänge zu finden, integrierten nicht nur Melodien und Akkorde der osmanischen Musik in ihre Arbeiten, sondern übernahmen auch Musikinstrumente in ihre Orchester. So sind das Becken die Basstrommel und die Glocke bis heute Bestandteil der Symphonieorchester.

Wolfgang Amadeus Mozart verarbeitete sie in seiner Komposition „Rondo alla turka“ und seine Oper „Die Entführung aus Serail“ wurde der Einfachheit halber gleich die „Türkenoper“ genannt. Beethoven bezog türkische Musikinstrumente in seine neunte Sinfonie mit ein.

Die Einflüsse der türkischen Kultur sind heute noch spürbar und sollten in manche gegenwärtige Diskussionen stärker mit eingebracht werden.

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Befreiendes Schauspiel https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/14/befreiendes-schauspiel/ Fri, 14 Sep 2012 14:29:05 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=151

Der Schriftsteller Ahmet Tulgar

Ich sehe nicht regelmäßig fern. Meine Tätigkeit als Schriftsteller lässt mir kaum Zeit dazu. Doch das änderte sich letzten Winter als meine Mutter einen Unfall erlitt und ich eine Zeit lang bei ihr zu Hause blieb. Eines Tages fiel mir auf, dass die Pflegerin meiner Mutter während ihrer Arbeit einen Film im Fernseher nicht aus den Augen lassen konnte. Als sie bemerkte, dass nun auch ich meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm richtete, gab sie mir flüchtig den Hinweis, dies sei die erste Folge einer neuen Serie. Da sie eigentlich arbeiten musste, fühlte sie sich ertappt. Sie lud mich zum Mitschauen ein und bat so gleichzeitig um Verzeihung. Diese Serie sollte dann meine Dienstagabende der nächsten Monate bestimmen.

Ausdrucksstarke Mimik und Gestik als neues Element

Die Polizeiserie „Ucurum“ unterscheidet sich sowohl wegen des Drehbuchs als auch aus technischer Sicht sehr von jeglichen anderen türkischen Serien. So kann ich rechtfertigen, warum ich diese Serie – man kann sagen fast süchtig – verfolge. Der wichtigste Grund, weswegen ich mich mit dieser Serie befasse, ist einer der Schauspieler. Yaman, der Schurke der Serie, hatte mich schon in den ersten Szenen fasziniert. In den weiteren Folgen war dieser Charakter für mich, um es in einer Marketingterminologie auszudrücken, die „unique selling proposition“ (Alleinstellungsmerkmal).

Besagter Charakter „Yaman“, gespielt von Erdal Yildiz, ist ein Schurke, an den sich türkische Film- oder Serienzuschauer nicht so schnell gewöhnen. Er schaut nicht lange und horizontal in die Kamera wie in der sonst üblichen Darstellung von Schurken. Er spricht auch nicht in der typischen tiefen Bassstimme, die jegliche Andeutungen von Bosheit vermissen lässt. Stattdessen spricht er mit einem gebrochenen deutsch-türkischen-Akzent. Höchstwahrscheinlich wurde das Drehbuch um einige deutsche Worte erweitert, nachdem feststand, dass Yildiz diesen Charakter verkörpern würde. Er benutzt sporadisch bestimmte deutsche Worte, während er stets die Züge seines Gesichts und den Ausdruck seines Körpers verändert oder sie mit flüchtiger Mimik und Gestik erweitert.

Bereichernde Andersartigkeit aus Deutschland

Auf diese Weise wurde ich neugierig auf die Geschichte von Erdal Yildiz, dem Darsteller von Yamar, dem Schurken. Ich habe recherchiert. Meint, ich habe „gegoogelt“. Ich stellte fest, dass Yildiz nicht nur Schurken spielt, sondern auch der zärtliche und gut aussehende Macho in der deutsch-türkischen Produktion „Zenne“ war. Yildiz kam mit sechs Jahren gemeinsam mit seiner Familie aus einem kurdischen Dorf der Provinz Dersim (heute Tunceli, Anm. d. Red.) nach Deutschland. In der Stadt, in der sie in Deutschland eintrafen, lebte sonst keine weitere Familie aus der Türkei. Später zog er nach Berlin, um dort Schauspieler zu werden. Als seine Erwartungen nicht erfüllt wurden, schrieb er sich in den USA an einer Schauspielschule ein. Er beendete seine Ausbildung in den USA, kehrte zurück nach Deutschland und binnen Kurzem erhielt er mehrere Jobangebote. Erdal Yildiz, das „enfant terrible“ der deutschen Filmindustrie, ist seit der Saison 2011/12 ein gesuchter Schauspieler für Serien in der Türkei. Die Kritiker finden, er bringe frischen Wind in die türkische Filmbranche.

Die Gründe für diese Ansicht der Kritiker, und auch die Gründe, warum die Zuschauer diesen fiktiven Charakter trotz all seiner Handicaps ins Herz geschlossen haben, sind vielfältig. Da ist zum einen das persönliche Talent des Schauspielers und sein Charisma. Zum anderen ist da seine Andersartigkeit zu nennen, die er sich durch sein alltägliches Leben in Deutschland angeeignet hat und mit der er die Schauspielkunst in der Türkei bereichert.

Aufbrechen traditioneller Darstellungen

Diesen Trend der deutsch-türkischen Schauspieler in der Türkei verfolge ich schon seit geraumer Zeit. Die deutsch-türkischen Schauspieler und Regisseure bereichern den türkischen Filmsektor und das Fernsehen um bisher nicht vorhandene Qualitäten. Ich habe des Öfteren den Scherz angebracht: „Man soll in der Türkei eine Serie mit dem Titel ‚Was guckst du?‘ produzieren.“ Denn in der Türkei werden Serienfolgen oft mit Szenen gestreckt, in denen sich die Protagonisten nur lange gegenseitig anschauen, um so die nötige Sendezeit für die Platzierung von Werbeblöcken zu erreichen. Auf diese Weise bestimmt der profitorientierte Ansatz Fernsehsender die Gestaltung der Serien.

Genau an dieser Stelle revolutionieren die deutsch-türkischen Schauspieler mit ihrer lebendigen Mimik und freieren Gestik diese Gestaltung – und das nicht nur im Fernsehen. Damit brechen sie auch die traditionellen Darstellungen der „Yesilcam“-Verfilmungen auf, die den Zuschauern jahrelang ein eintöniges Schauspielverständnis vorgeführt hatten. [„Yesilcam“ bezeichnet die traditionelle Filmindustrie in der Türkei, Anm. d. Red.] Kurzum, die Individuums- und Körperpolitik eines anderen Landes rüttelt die türkische Schauspieltradition auf.

Individuelle Darstellung stößt gesellschaftliche Debatten an

Ein anderes Beispiel in dieser Hinsicht ist die Nursel Köse, Architektin und eine der bekanntesten deutsch-türkischen Schauspielerinnen. Sie begann ihre Schauspielkarriere in Berlin. Ihre Mimik, die sie während einiger leidenschaftlicher Diskussionen in den Cafés der Stadt zur Schau trug, setzte sie auch in ihrer dritten türkischen Serienrolle ein. Mit ihrer Typisierung der emanzipierten Frau traf sie den Geschmack vieler Darsteller und Kritiker. Das Interesse an ihr wuchs mit ihrer Rolle in dem Film „Yasamin Kiyisinda“ von Fatih Akin, für den sie mit dem Preis von Altin Portakal ausgezeichnet wurde.

Auch wenn ich auf Fatih Akin an dieser Stelle zwar nicht detailliert eingehen werde, muss ich betonen, dass er nicht nur für die Jugendlichen in Deutschland, sondern auch in der Türkei ein Vorbild und eine Ermutigung für diejenigen ist, die Film und Fernsehen studieren möchten. Im Weiteren möchte ich ein anderes „enfant terrible“ des türkischen Films, Birol Ünel, näher beleuchten.

Seine Schauspielertalente im Film „Gegen die Wand“, sein unbändiges Schauspieltalent, seine Offenheit, mit der er dem Zuschauer die Bandbreite seiner Gesichts- und Körperausdrücke ganz frei präsentierte, stilisierte Birol Ünel in der Türkei zu einer einzigartigen Freiheitsikone. Sibel Kekilli hingegen, die ebenfalls in dem besagten Film mitspielte, musste sich gegen die gegen sie gerichteten patriarchalen und moralischen Angriffe zur Wehr setzen. Dadurch gab sie, nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als junge Frau, den Anstoß für eine breite gesellschaftliche Diskussion zum Thema persönliche Freiheiten.

Neue Chancen für den neuen türkischen Film

Als sie 2011 ihren Film „Zenne“ machten, ließen sich die Regisseure Caner Alper und Mehmet Binay von Fatih Akin und dem Thema der Brücke zwischen den Jugendlichen in Deutschland und der Türkei inspirieren. Der Film wurde Ahmet Yildiz gewidmet, der aufgrund seiner homosexuellen Orientierung von seinem eigenen Vater ermordet worden war. Der Film berührte breite Gesellschaftsschichten – weit über die LGBTT-Kreise (Lesbian-, Gay-, Bisexual- und Trans-Kreise) hinaus – und wurde mehrfach ausgezeichnet.

Die Freiheit in Deutschland tut dem türkischen Kino gut. Das trifft auch auf Filmemacher türkischer Herkunft und den türkischen Film- und Schauspielsektor zu. Die Freiheit erweitert nicht allein Horizonte. Sie eröffnet ein breites Feld für Gestik und Mimik, indem sie den Körper der Kontrolle der unsinnigen Moral und der des Regimes entzieht. Das ist die neue Chance, die die türkischstämmigen Regisseure und Schauspieler aus Deutschland für den türkischen Film- und Seriensektor mitbringen.

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