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Treffpunkt - Buluşma Noktası

Türkische und deutsche Kultur im Dialog

Dolmuş in Berlin

Dolmuş - öffentliches Verkehrsmittel in Istanbul

Dolmuş – öffentliches Verkehrsmittel in Istanbul

Wenn Zeitdruck mir nicht aufnötigt, eines der zahllosen gelben „Taksis“ zu nehmen, fahre ich in Istanbul „Dolmuş“. Dolmuş heißt „gefüllt“ oder „voll“ und bezeichnet den Zustand, der erreicht sein muss, damit sich dieses einmalige öffentliche Verkehrsmittel in Bewegung setzt: Früher waren das alte amerikanische Straßenkreuzer, heute sind es Kleinbusse, die an ihrer Haltestelle warten, während ein Ordner das Fahrtziel ausruft.

Ist der Wagen voll, geht es los – zwar auf der festgelegten Route, aber dann ist dann alles möglich: Fahrgäste steigen auf freier Strecke aus und das Dolmuş hält, wo immer Fahrgäste es heranwinken.

Dolmuş - typische Istanbuler Kleinbusse

Dolmuş – typische Istanbuler Kleinbusse

Leider stehen viele dieser typischen Istanbul-Phänomene immer wieder mal zur Disposition, sind akut bedroht oder verschwinden ganz aus dem Stadtbild. Und so steht auch die Abschaffung des Dolmuş immer wieder mal auf der Agenda. Sogar die legendären „Schwäne Istanbuls“, die Bosporus-Dampfer, sollten einmal abgeschafft werden. Nach Protesten hat man ihre Zahl dann aber sogar erhöht und im Internet über das Design der neuen Dampfer abstimmen lassen.

Und die Tische und Stühle vor den Kneipen des Istanbuler Stadtteils Beyoğlu sind fast völlig verschwunden, die ehemals belebten Gassen leergeräumt. Als ich nach den Jahren, die ich in meiner Kindheit und Jugend in Istanbul verbracht hatte, zum Studieren nach Berlin kam, vermisste ich dort genau dieses Leben unter freiem Himmel, das so typisch für Istanbul war. Das Leben in Berlin fand ‚Drinnen‘ statt. In meiner Studentenkneipe diskutierte man an einem warmen Sommerabend sogar, ob man die Kneipentür öffnen solle oder nicht … sie blieb geschlossen.

Heute stellt in Berlin jede Würstchenbude ein paar Bänke auf den Gehweg und die Stadt ist Ort einer gastronomischen Freiluftkultur. Diese sommerliche Lebensfreude haben wir von unseren Italien-, Spanien-…  und Türkeireisen mitgebracht – nach nunmehr über einem halben Jahrhundert fröhlichen und friedlichen Reisens in Europa.

Vieles aber, was Istanbul von anderen Metropolen abhebt, verschwindet nach und nach – so werden zum Beispiel auch die fliegenden Händler immer weniger … Dabei ist Istanbul nicht nur Topkapi-Palast, Hagia Sophia und Großer Basar, so wenig wie man Berlin nur auf Brandenburger Tor, Museumsinsel und KaDeWE zu reduzieren kann. Städte erhalten ihr Gesicht gerade auch durch die unterschiedlichen Farben ihrer Alltagskultur.

Aber „Stadt“ ist ein Prozess permanenter Veränderung, in dem auch immer wieder Neues entstehen kann – und wenn es nur eine Ausnahme ist: Nach einem langen Abendessen bei Freunden in Berlin ging ich runter an die Straße, um ein Taxi anzuhalten. Aus Istanbuler Gewohnheit hatte ich mir keines rufen lassen. Nach langem Warten an der nächtlich leeren Straße hielt neben mir ein Taxi. Die gelbe Lampe auf dem Dach und das Taximeter waren ausgeschaltet, auf dem Beifahrersitz saß bereits ein Passagier.

Dolmuş in Istanbul

Dolmuş in Istanbul

„Ich setze den Fahrgast weiter vorne ab, aber sie können ja schon einsteigen“, bot der Fahrer an. Als wir später alleine weiterfuhren, nannte er mir einen recht günstigen Festpreis – unter der Bedingung, dass er weitere Fahrgäste mitnehmen dürfe. Dann erläuterte er mir sein Geschäftsmodell: „Statt nachts irgendwo lange rumzustehen bis jemand kommt, sammle ich unterwegs und an den Haltestellen die Leute ein – für ein paar Euro oder so … Die haben nämlich keinen Nerv zu warten, bis irgendwann ein Nachtbus kommt.“

„Ich glaube, sie haben hier in Berlin das Dolmuş erfunden“, war meine verblüffte Reaktion und statt zu fragen, was das sei, war seine Antwort: „Nee, das hab ich in Istanbul gesehen.“

Datum

Dienstag, 23.10.2012 | 09:18

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