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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Andy Holzer: „Auf 7500 Metern ist jeder behindert“

Der blinde Kletterer Andy Holzer

Blinde können sehen, nur anders. Das beweist der Österreicher Andy Holzer. Der 47-Jährige aus Lienz in Osttirol ist seit seiner Geburt blind. Das hindert ihn aber nicht, im Fels zu klettern, Skitouren zu machen und selbst Berge im Himalaya zu besteigen. Der 16. August 1975 war ein besonderer Tag in Andys Leben. Mit seinen Eltern durfte der damals Neunjährige erstmals einen felsigen Berg besteigen. Nachdem er sich erst stundenlang durchs Geröll geschuftet hatte, war ihm plötzlich beim Klettern im Fels der Vater zu langsam, die Mutter kam nicht mehr hinterher. „Das war für mich ein Gefühl, als ob mir jemand die Fesseln abnimmt“,  erinnert sich Andy, als wir uns kürzlich beim International Mountain Summit in Brixen treffen.

Andy, die erste Frage ist wahrscheinlich immer dieselbe. Wie machst du das, in einer Felswand zu klettern, ohne wirklich zu sehen?

Ich klettere nicht, ohne es zu sehen. Das würde nicht funktionieren.

Das musst du erklären.

Ich generiere die topographischen Details einer Felswand mit anderen Sinneseindrücken, etwa wenn ich den Griff anfasse, der wenig später zum Tritt wird. Das ist einfach ein intuitives Klettern. Auch sehende Spitzenkletterer trainieren – natürlich im geschützten Rahmen – blind zu klettern, weil es ganz andere Bewegungsabläufe sind. Du greifst nicht nach einem Griff, weil du ihn siehst, sondern du greifst dorthin, wo es dein Körperschwerpunkt gerne hätte. Das ist der Unterschied, wenn du blind kletterst. Das habe ich ausgefeilt, mittlerweile bald schon 25 Jahre lang. Es ist kein Spitzenklettern, kein Riesending, aber ein Riesenspaß.

Im Fels der Carstensz-Pyramide (Foto: Andreas Unterkreuter)

Du musst ein gigantisches Gedächtnis haben, wenn du die topographischen Details in deinem Kopf zu diesem 3-D-Bild zusammenbastelst.

Mir ist das gar nicht bewusst. Ich merke immer nur, dass ich einen wesentlich höheren Stoffwechsel habe als meine Freunde oder andere Bergsteiger. Das ist ein ganz anderer Aufwand an Energie. Ich muss mir viel mehr vorstellen, viel mehr Geisteskraft investieren, um auf demselben Level zu klettern wie die sehenden Freunde. Die Schwierigkeiten liegen für mich zwei, drei oder vier Klettergrade höher. Es ist einfach eine andere Dimension.

Du kletterst mit sehenden Seilpartnern. Kannst du eine Route anschließend auch alleine bewältigen?

Das ist für mich überhaupt die Motivation, steile Berge zu besteigen. Ich möchte wissen: Wie schaut das aus? Was sehen die Sehenden? Welche Formen und Strukturen hat der Berg? Das kann ich eben nicht mit den Augen. Auch nicht mit den Ohren. Du kannst noch so gut in die Natur hinaus lauschen, du wirst den Berg nicht in seinen Details hören. Dafür habe ich den Tastsinn. Der reicht gerade so weit wie der Arm lang ist. Ich muss den Berg hinaufklettern, um ihn zu sehen. Das ist eine Riesenmotivation. Die Route anschließend im Gedächtnis abzuspeichern, ist nicht anstrengend, sondern eher eine emotionale Regung, so wie sich Sehende Gesichter merken oder Sonnenuntergänge.

Im Vorstieg (Foto: Martin Kopfsguter)

Erlebst du auch Adrenalin-Ausstoß wie andere, die in der Wand hängen, nach unten schauen und plötzlich einfach überwältigt sind von dem, was sie da gerade anstellen?

Viele Menschen verwechseln Blindheit mit Torheit. Blindheit ist nur der Ausfall eines von fünf Sinnesnerven. Du hast immer noch vier, 80 Prozent Wahrnehmung sind da. Wenn ich klettere und sich ein 600 Meter tiefer Abgrund unter meinen Beinen auftut, dann nehme ich die gähnende Leere wahr, die mich fast herunterziehen will. Es ist gewaltig. Das Wissen darum genügt vollkommen, um dieses Gefühl der Ausgesetztheit zu bekommen, das Wissen, dass der nächste Schritt über Untergang oder Gipfelsieg entscheidet. Da gibt es keinen Unterschied. Zu mir wird immer gesagt, du bist doch sicher schwindelfrei, du siehst ja nicht hinunter. Da muss ich antworten: Es ist schon eine wilde Geschichte hinunterzustürzen, wenn du siehst, wo es hingeht. Aber in die Dunkelheit, in die Ungewissheit zu stürzen, ist noch viel schlimmer.

Andy Holzer: Das Wissen um den Abgrund genügt

Andy in der Nordwand der Großen Zinne (Foto: Martin Kopfsguter)

Du hast schon sechs der „Seven Summits“ bestiegen, der höchsten Gipfel aller Kontinente. Jetzt fehlt dir nur noch der Mount Everest. Er ist bereits einmal von einem Blinden bestiegen worden, dem US-Amerikaner Erik Weihenmayer. Du bist mit ihm auch schon geklettert, als „doppel-blinde“ Seilschaft. Hat er dich angespornt, den Everest zu wagen?

Die „Seven Summits“ sind für mich weniger eine geplante Aktion. Bis zum vierten Gipfel ist mir überhaupt nicht bewusst gewesen, dass es diese Sammlung gibt. Ich steige auf 200 Berge pro Jahr, nicht nur hier. Von Grönland bis in die Antarktis. Überall bin ich unterwegs. Diese „six of seven“ waren eben dabei. Ich habe auch schon an zwei Achttausendern meine Spuren hinterlassen, an der Shishapangma und am Cho Oyu, leider Gottes ohne Gipfelsieg. Ich weiß, wie es sich in Tibet, Nepal, im Himalaya anfühlt.

Andy Holzer: Everest-Reise ist ein geiler Gedanke

Wagnis Everest? Jeder weiß, dass der Everest der sicherste aller Achttausender ist. Das ist keine Expedition, sondern eine Reise. Wenn ich jetzt mit 47 Jahren morgen zusammenpacken und mit meinen Freunden zum höchsten Berg der Erde aufbrechen könnte, wäre das schon reizvoll. Eigentlich cool, andere machen eine Reise nach Venedig oder aufs Kitzsteinhorn, und wir fahren gerade mal zum Everest. Das ist ein geiler Gedanke. Denn ich glaube, wer nicht seine Tränen in den Augen spürt, wenn er den Hillary Step hinaufsteigt und die letzten Meter zum höchsten Punkt dieser Erde geht, der hat auf keinem Berg etwas verloren. Wenn da keine Emotion ist! Schauen wir, ob es noch passiert. Es kann ohne weiteres sein. Aber der Everest ist jetzt nicht das absolut fokussierte Ziel.

Es gibt also keinen konkreten Plan, ihn im nächsten Jahr anzugreifen. Die biologische Uhr tickt auch bei dir. Man weiß, so ab 50 wird es in der Höhe schwieriger.

Das ist absolut ein Thema und mir ganz bewusst. Ich höre immer wieder von meinen Freunden, ein 70-, ein 80-Jähriger ist auch hochgestiegen. Aber das ist eigentlich nur ein Kompliment meiner Freunde mir gegenüber. Die steigen alle mit Stirnlampe hoch. Ich bin der einzige, der in der vollkommenen Dunkelheit klettert. Das ist rein körperlich, vom Stoffwechsel, vom Energiehaushalt her, eine komplett andere Nummer. Da hast du mit 50 Jahren wahrscheinlich nichts mehr verloren, und ich bin wahrscheinlich schon jetzt schon ziemlich an der Kippe. Der Everest ist für mich einfach ein anderer Berg als für einen Sehenden. Darüber brauchen wir überhaupt nicht zu diskutieren.

Du warst an zwei Achttausendern. War das für dich eine andere Selbsterfahrung in dieser großen Höhe?

Dort oben gleichen die Sehenden und ich uns immer mehr an, weil die Geschwindigkeit reduziert wird. Langsamer zu gehen, bedeutet für mich als Blinden, dass ich für jeden Schritt einige Millisekunden mehr Zeit habe, zu analysieren, ob ich hinten links oder vorne rechts am Steigeisen mehr Druck geben muss, um im Balance zu bleiben. Hier unten, wo die Höhe keine Rolle spielt, muss ich die Schritte ganz schnell hintereinander setzen, um das Tempo halten zu können. Da ist jeder Schritt wie ein Lottotipp. Das ist auf die Dauer extrem anstrengend. Wenn du plötzlich zwei Sekunden Zeit für einen Schritt hast, ist es geradezu ein Spiel. Die große Höhe reizt mich so, weil es mir da oben gut geht.

Auf Skitour auf dem 3358 Meter hohen Schneebigen Nock (Foto: Erwin Reinthaler)

Mir hat einmal ein Paralympics-Sieger gesagt, er möge den Begriff Behindertensportler nicht. Fühlst du dich auch in eine Schublade geschoben, wenn dich jemand so nennt.

Nein. Ich höre das auch relativ selten, weil ich nicht im Wettbewerb stehe. Außerdem: Oben auf 7500 Metern ist jeder behindert. Da habe ich noch nie einen Nicht-Behinderten getroffen. Und wenn beim Felsklettern in den Dolomiten mein sehender Seilpartner nicht behindert ist, haben wir wohl die falsche Route ausgesucht. Dann war es zu einfach, keine Herausforderung. Wir gehen ja gerade deshalb bergsteigen, um uns zu behindern. Um den asphaltierten Wegen zu entkommen, den Schienen auszuweichen, um die Hinderung zu suchen. Das ist ja das Geniale beim Bergsteigen.

Andy Holzer: Auf 7500 Metern ist jeder behindert

Du gehst auch auf Skitouren.

In den letzten zehn Jahren bin ich pro Winter mindestens hundert Tage auf meinen Tourenskiern unterwegs gewesen, im letzten Winter sogar noch mehr. Das Element Schnee kommt mir entgegen. Den Schnee kannst du mit Schwung und Balance formen, bei Steinen geht das nicht. Natürlich musste ich auch Techniken entwickeln. Auch hier ist das Ohr extrem wichtig. Durch die Schwünge meines Freundes höre ich sofort die Neigung. Er braucht auch nicht zurückzurufen: Andy, pass‘ auf, da kommt ein Eisfleck! Ich höre das ja schon lange. Wenn er da vorne ausrutscht, passiert mir das tausendprozentig nicht. Das Hörbild funktioniert ähnlich wie beim restlichen Leben. Was dazu kommt, ist die Geschwindigkeit. Wenn du im Tiefschnee oder Bruchharsch kein gewisses Tempo hast, säufst du ab. Daran habe ich in den letzten zehn Jahren gearbeitet und mich extrem entwickelt, so dass ich es jetzt wirklich in vollen Zügen genieße.

Ich bin von der Shishapangma aus 7100 Metern Höhe mit den Skiern abgefahren, auch vom Mount McKinley oder vom Ararat in der Türkei. Nicht weil ich besonders gescheit sein will, sondern weil es für mich eine Erleichterung ist, die Schwünge zu ziehen, zentrisch auf dem Ski zu stehen. Dafür brauchst du keine Augen, das ist eine Gefühlssache. Ich muss mich auch auf das Material einstellen. Meine Ski sind sehr kurz und ganz breit, damit die Wendigkeit erhalten bleibt. Wenn der Ski 1,80 Meter lang ist, hast du mehr Chancen einzufädeln oder einen Stein zu treffen, als wenn er nur 1,40 Meter lang ist.

Das hört sich an, als sei dein Leben immer auch Werkstatt.

Ha! Ich würde jedem wünschen, dass sein Leben eine Werkstatt ist. Denn wenn es keine ist, dann entwickelst du dich nicht. Ich bin ständig in Entwicklung meines Werkes. Was ich jeden Tag lebe, ist eine Lebenswerkstatt. Das hast du wunderschön festgestellt.

Andy Holzer: Meine Lebenswerkstatt

Datum

23. November 2013 | 15:26

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