Bonington: “Das Tolle am Himalaya-Bergsteigen ist das Entdecken”
Sir Chris Bonington wurde zum Ritter geschlagen, und doch ist er nicht abgehoben. Der 80 Jahre alte Brite, eine lebende Legende des Bergsteigens, ist immer noch ein freundlicher Mann geblieben, der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht. Davon konnte ich mich wieder einmal überzeugen, als ich ihn in der vergangenen Woche in Chamonix traf, wo er für sein Lebenswerk in den Bergen mit dem “Piolet d’Or” ausgezeichnet wurde.
Chris, was bedeutet dir der Ehren-Piolet d’Or?
Er bedeutet mir eine Menge, weil er auch eine Auszeichnung für meine ganze Berufsgruppe ist. Und ich finde mich jetzt in Gesellschaft einiger der besten Kletterer der Welt, die ebenfalls den Piolet d’Or für ihr Lebenswerk erhalten haben [Walter Bonatti (geehrt 2010), Reinhold Messner (2011), Doug Scott (2011), Robert Paragot (2012), KurtDiemberger (2013), John Roskelley (2014)] und von denen viele zu meinen guten Freunden gehören.
Du bist 80 Jahre alt und kletterst immer noch, zuletzt erst vor einigen Wochen in Katalonien in Spanien. Verrätst du mir dein Geheimnis?
Ich klettere jetzt sehr maßvoll. Und es liegt wohl auch daran, dass ich nie mit dem Klettern aufgehört habe. Ich denke, darin liegt das Geheimnis, für jeden. Man sieht heute immer mehr Grauhaarige, die in den Bergen oder in hügeligen Landschaften durch Felswände klettern. Mein Niveau sinkt ständig, aber das macht nichts. Ich liebe es immer noch zu klettern und draußen in der Natur unterwegs zu sein. Und ich genieße die Gesellschaft meiner Freunde.
Wird es für dich schwieriger, Körper und Geist in Einklang zu bringen?
(Lacht) Ohne den geringsten Zweifel! Du empfindest natürlich die größte Freude am Klettern, wenn du auf der maximalen Höhe deiner Fähigkeiten bist und den Nervenkitzel eines guten Leistungssportlers empfindest, wenn du deinen Körper völlig unter Kontrolle hast und die Kletterrouten förmlich hoch schwebst. Wenn du älter wirst, ächzt du sie nur noch hoch. Da ist nichts mehr von körperlicher Euphorie. Aber wag geblieben ist, ist die Liebe zu den Berge. Und auch das Vergnügen, dort zu sein. Und ich denke, ich weiß heute meine Freundschaften mehr zu schätzen als früher.
Bonington: Die Liebe zu den Bergen ist noch da
Du hast so viele außergewöhnliche Bergtouren gemacht. Welche ist für dich selbst die wichtigste?
Kein Zweifel, die Annapurna II [1960], weil sie mein erster Himalaya-Gipfel überhaupt war, den ich bestieg, und sie ist nur um Haaresbreite niedriger als 8000 Meter [7937 Meter]. Sie ist wirklich ein sehr schöner Berg, ungefähr zehn Kilometer Luftlinie von der Annapurna I entfernt. Natürlich hat deine erste Himalaya-Expedition fast zwangsläufig einen besonderen Stellenwert. Aber wenn sie auf einen so schönen Berg führt und du dann auch noch in der Lage bist, den fast 8000 Meter hohen Gipfel zu erreichen, dann ist das wirklich etwas.
Als ich dann erst die Expedition zur Annapurna-Südwand [1970] und dann jene zur Everest-Südwestwand [1975] leitete, hatte ich eine wahnsinnig große organisatorische Rolle. Die Everest-Südwestwand war sicherlich die größte sowohl intellektuelle als auch physische Herausforderung, der ich mich jemals gestellt habe. Ich war Organisator, Planer, Leiter. Als solcher hätte ich vielleicht auch die Möglichkeit gehabt, den Gipfel zu erreichen, aber das stand auf meiner Prioritätenliste weit unten.
Wenn man nur die schiere Freude und den Spaß zugrunde legt, würde ich einen viel niedrigeren Berg nennen: den Shivling [1983]. Mir gelang mit meinem Kumpel Jim Fotheringham die Erstbesteigung des Westgipfels. Es war eine total spontane Besteigung. Wir ergriffen die Gelegenheit, als wir einen Freiflug nach Neu Delhi erhielten, um an einer Tourismuskonferenz teilzunehmen, und dann fuhren wir einfach weiter, um diesen Berg zu besteigen. Wir waren im Alpinstil unterwegs, fünf Tage lang hinauf, einen hinunter, sehr anspruchsvoll, ein schöner, zackiger Berg. Er steht für alles, was ich am Klettern mag. Ich hatte wirklich unglaubliches Glück, so viele größere Expeditionen zu leiten. Aber in den letzten 35, 40 Jahren bevorzugte ich eher kleinere Expeditionen, zu niedrigeren Bergen, mit der ganzen Bandbreite wundervoller Abenteuer.
In diesem Jahr feiern wir den 40. Jahrestag der ersten Durchsteigung der Everest-Südwestwand durch Doug Scott und Dougal Haston. Du warst damals, 1975, der Expeditionsleiter. War es schwierig für dich, nicht mitklettern zu können?
Nein, denn auf eine gewisse Weise war diese Expedition mein Baby. Es war meine Vision und mein Konzept. Dann stellte ich die Gruppe der herausragenden Kletterer zusammen, die das Projekt schließlich vollendete. Für mich stand von Anfang an der Erfolg der Expedition im Vordergrund, nicht der Gipfelerfolg, und ich wollte einen Erfolg in harmonischer Atmosphäre. Und aus diesem Blickwinkel war es wirklich eine wundervolle Expedition. Der einzige sehr ernste Schatten, der über ihr lag, war die Tatsache, dass wir beim zweiten Versuch Mick Burke verloren.
Bonington: Die Everest-Südwestwand-Expedition war mein Baby.
Bis heute gibt es nur einige wenige andere Routen durch die Everest-Südwestwand – vielleicht weil sie zu gefährlich ist?
Das ist wirklich interessant. Ich glaube, neben unserer Route gibt es nur noch die der Russen und eine oder zwei kleinere Variationen. Die offensichtliche Herausforderung, die bisher noch niemand gewagt hat, ist eine Direttissima, die direkt durch die Mitte des Felsbandes auf den Gipfel führt. Wir machten es damals fast so, wie die Nordwand des Eiger erstmals bestiegen wurde: Wir fanden den einfachsten Weg, beinahe in Serpentinen den Berg hinauf. Aber ich glaube, auch auf unserer Route stehen bis heute nur vier Aufstiege zu Buche.
Viele Dinge haben sich seitdem am Everest verändert. Was denkst du über das heutige Bergsteigen am Everest?
Gott sei Dank war ich schon damals oben. Und Gott sei Dank war 1985, als ich letztlich mit einem norwegischen Team den Gipfel des Everest erreichte, noch das letzte Jahr, in dem die nepalesische Regierung nur eine Expedition pro Route erlaubte. Das bedeutete, dass wir 1985 das gesamte Western Cwm für uns hatten. Es war wunderbar. Was wir heute dort erleben, ist eine wohl zwangsläufige Entwicklung, die man mit der Geschichte des Mont Blanc vergleichen kann. Auch dieser Berg schien im späten 18. Jahrhundert so unerreichbar wie der Everest 1953 den Erstbesteigern Tenzing Norgay und Edmund Hillary. Die normale Entwicklung ist dann die folgende: Auf die Erstbesteigung folgen andere Anstiege. Dann bietet sich eine kommerzielle Möglichkeit: Bergführer beginnen, Kunden auf den Gipfel zu bringen. Am Mont Blanc wurde die Normalroute sehr schnell regelmäßig durchstiegen. Und genau das passierte fast zwangsläufig auch am Everest. Das große Problem ist, ob es dir gelingt, das Ganze in den Griff zu bekommen. Augenblicklich wirkt die Situation fast anarchisch, wenn sich alljährlich Hunderte Bergsteiger am Everest versuchen. Es gibt ein gewisses Gewaltpotential und viele, möglicherweise vermeidbare, Todesfälle. Aber ich denke, zu gegebener Zeit wird man das in den Griff bekommen.
Bonington über das heutige Bergsteigen am Everest
Würdest du jungen Bergsteigern raten, einen Bogen um den Everest zu machen?
Ich würde ihnen definitiv raten: Meidet ihn! Ich sage den jungen Kletterern: Das Tolle am Bergsteigen im Himalaya ist das Entdecken. Und es gibt noch buchstäblich Tausende unbestiegener Gipfel im Himalaya. Du wirst vielleicht nicht berühmt, wenn du sie besteigst. Weil sie teilweise nicht einmal einen Namen tragen, sondern nur als Höhenangabe in den Karten auftauchen. Aber du kannst echte Entdeckerfreude erleben, wenn du in einem Tal unterwegs bist, in dem noch niemals zuvor Bergsteiger waren und wo du dir einfach einen Weg hinauf suchst und einen Gipfel besteigst.
Du hast so viele Freunde in den Bergen verloren. Sind Bergsteiger gewissermaßen gezwungen, sich häufiger als andere mit dem Tod auseinanderzusetzen?
Es ist ein gefährlicher Sport. Du hast die Adrenalin-Junkies, und das sind wir wirklich, die suchen das Extreme und schieben ihre Grenzen so weit wie möglich hinaus, da muss es doch fast unweigerlich eine hohe Todesrate geben. Und es gibt sie tatsächlich unter den Extrem-Höhenbergsteigern, genauso wie zum Beispiel unter den Basejumpern oder Wingsuit-Fliern. Ich glaube nicht, dass sich diese Menschen nach dem Tod sehnen. Vielmehr erleben sie eine Euphorie dabei, ihren Körper und sich selbst ans absolute Limit zu bringen, um ein Ziel zu erreichen. Ich denke, es ist einfach der Preis, den du bereits sein musst, dafür zu bezahlen. Wir mögen selbstsüchtig sein, vielleicht wirklichkeitsfremd, und doch denke ich, dass die Welt Abenteurer braucht.
Bonington: Die Welt braucht Abenteurer
Denkst du selbst inzwischen häufiger an den Tod als früher?
Nein. In meinem tiefsten Innern bin ich ein Optimist. Das musste ich auch sein, wenn man bedenkt, dass ich mindestens zehn Mal dem Tod von der Schippe gesprungen bin. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Aber ich liebe ganz einfach das Leben.