Ueli Steck: „Ich akzeptiere das Risiko“
Eigentlich wollte Ueli Steck im Herbst 2014 in Tibet nur ein bisschen Aktivurlaub machen. Der 38 Jahre alte Top-Bergsteiger aus der Schweiz plante, mit seiner Frau Nicole über die Normalroute den Achttausender Shishapangma zu besteigen. Schnell war klar: Ganz so einfach würde es nicht, weil zu viel Schnee lag. „Nur im Basislager rumsitzen, ist aber nicht mein Ding“, erzählte mir Ueli auf der ISPO in München. „Deshalb habe ich die Jungs bei ihrem Gipfelversuch begleitet.“ Die Jungs, das waren die deutschen Skibergsteiger Benedikt Böhm, Sebastian Haag und Martin Maier sowie der Italiener Andrea Zambaldi. Im Gipfelbereich löste sich eine Lawine: Haag und Zambaldi kamen ums Leben, Maier überlebte schwer verletzt. Nur Steck und Böhm wurden von der Lawine nicht mitgerissen. Grund genug, mit Ueli über Risiko und Glück zu reden:
Ueli, man sagt, eine Katze habe sieben Leben. Wie viele Leben hast du?
Ja, wie viele Leben habe ich? Ich habe jetzt schon ein paar Mal Glück gehabt. Aber ich zähle das nicht, da machst du dich nur verrückt. Es ist halt so, wenn man in die Berge geht, geht man ein gewisses Risiko ein. Und das muss man einfach akzeptieren.
Ueli Steck: Hatte schon ein paar Mal Glück gehabt
Im vergangenen Herbst hast an der Shishapangma hat eine Lawine im Gipfelbereich die Skibergsteiger Sebastian Haag und Andrea Zambaldi das Leben gekostet. Du warst dabei, wie knapp war es für dich?
Es war eigentlich nur Glück, dass Beni (Böhm) und ich uns noch etwas weiter oben aufhielten. Wir standen auch in der Lawine, aber eben ein wenig auf der Seite, wo nicht so viel wegrutschte. Wir konnten stehen bleiben, die anderen hat es weggefegt. Das war sehr knapp.
Wie viel ist in so einer Situation Glück, wie viel Instinkt?
Das ist schwierig zu sagen. Instinkt, das sind Entscheidungen, die du unbewusst triffst. Das kann man nicht messen. Es gibt schon Leute, die machen immer das Richtige. Man sagt dann auch, die haben immer Glück. Aber was ist Glück? Vielleicht trifft man einfach instinktiv die richtige Entscheidung und steht am richtigen Ort. Ich würde jetzt nicht unbedingt sagen, das war mein Instinkt, dass ich dort überlebt habe. Aber ich würde auch nicht sagen, es war nur pures Glück. Ich kann das irgendwie nicht erklären.
Du hast schon mehrere solcher Situationen erlebt. So wurdest du bei einem deiner ersten Versuche an der Annapurna-Südwand im Jahr 2007 von einem Stein am Kopf getroffen und kullertest 300 Meter tief den Berg hinunter.
Das war pures Glück. Pech war eigentlich nur, dass mich damals der Stein getroffen hat, der Rest war wirklich pures Glück. Das hatte nichts mit Instinkt oder was auch immer zu tun.
Wie gehst du anschließend mit so einer Erfahrung um? Hast du irgendwelche professionellen Mechanismen entwickelt, damit du das nächste Projekt wieder unbefangen angehen kannst oder beschäftigt es dich genauso, wie es einen Laien beschäftigen würde?
Mich beschäftigt das sehr. Die Geschichte 2013 an der Annapurna (Ueli riskierte viel, als er solo durch die Südwand über eine bis dahin noch nicht vollendete Route zum Gipfel stieg und nach nur 28 Stunden wieder unten ankam) hat mich richtig aus der Bahn geworfen, das muss ich zugeben. Aber man kann das einfach herunterbrechen: Beim Bergsteigen probiert man, gute Entscheidungen zu treffen, nicht zu viel Risiko einzugehen. Am Schluss müssen wir jedoch einfach ganz klar sagen: Sobald wir in die Berge gehen, egal auf welchem Niveau du es betreibst, besteht ein gewisses Risiko, dass ein Unfall passiert. Da gibt es für mich nur Schwarz-Weiß. Entweder ich akzeptiere das oder eben nicht. Wenn ich es nicht akzeptiere, darf ich nicht mehr in die Berge fahren. Und da sind mir halt das Bergsteigen und die Erlebnisse, die ich dabei habe, einfach zu wichtig und geben mir zu viel. Deshalb akzeptiere ich das Risiko.
Ueli Steck: An der Annapurna, das war zu viel
Bist du als Profi gezwungen, ein größeres Risiko einzugehen, um ernst genommen zu werden?
Nein, ich bin zu absolut nichts gezwungen. Ich kann machen, was ich will. Ich treffe meine Entscheidungen für mich selber. Wenn ich in eine Wand einsteige, habe ich das Projekt so lange vorbereitet, dass es auch machbar ist. Es gibt bei mir nicht die Überlegung: Wenn ich es überlebe, mache ich ein gutes Geschäft daraus. Wenn ich gehe, ist für mich klar, ich komme auch wieder zurück. Das ist ein entscheidender Faktor. Aber ich bewege mich natürlich in einem anderen Bereich als jemand, der einfache Touren macht. Und sobald wir uns in diesem High-End-Bereich aufhalten, ist automatisch das Risiko viel höher.
Ihr versucht, eure persönlichen Grenzen immer ein Stück weiter zu verschieben. Besteht dann nicht die Gefahr, die Schraube zu überdrehen? Ist es möglich, irgendwann zu sagen: Das war das Riskanteste, was ich gemacht habe, ab jetzt drehe ich die Schraube ein Stück zurück?
Das ist ja genau das Schwierige, und das weiß ich auch für mich selber. Nehmen wir die Annapurna. Ich habe das reflektiert, es hat mich sehr beschäftigt. Ich bin eigentlich der einzige, der wirklich beurteilen kann, wie viel Risiko ich dort eingegangen bin und wie viel Commitment (Einsatz) dabei war. Es war sehr viel. Ich habe dort sogar akzeptiert, dass ich wahrscheinlich nicht lebend zurückkomme. Und das ist zu viel. Es ist ganz einfach, jetzt hier am Tisch zu sagen, ich drehe die Schraube ein bisschen zurück. Aber es ist ein Riesenprozess, das auch zu fühlen, zurückstehen zu können, ohne immer das Gefühl zu haben, man sollte doch noch weiter gehen. Bei mir ist es auch noch nicht so, dass ich sagen kann: Ich gehe jetzt nicht mehr in den Himalaya. Ich weiß, sobald ich in dieser Situation bin, treffe ich die Entscheidung wieder genauso wie an der Annapurna, und ich akzeptiere das Risiko.
Ueli Steck: Schwierig, die Schraube zurückzudrehen
Du hast vor nicht allzu langer Zeit einmal gesagt: Die Zeit der Solos ist vorbei, ich möchte jetzt auch wegen des Risikofaktors mehr im Team unterwegs sein. An der Shishapangma 2011 seid ihr zu zweit aufgebrochen, letztlich bist du aber alleine durch die Südwand gestiegen. An der Annapurna 2013 dasselbe. Hast du Schwierigkeiten, gleich starke Partner zu finden?
Zumindest probiere ich es. (lacht) Zweimal hat es nicht geklappt. Es ist schon schwierig, jemand zu finden, der auf demselben Niveau ist und das auch umsetzen kann. Ich habe eben diese Erfahrung der Sologänge, und damit ist es auch immer eine Option. Das wird in meinem Leben auch immer so bleiben. Es ist mir auch schon passiert, als ich mit einem Partner zur Eiger-Nordwand wollte. Am Einstieg sagt er, ich fühle mich schlecht, ich komme nicht mit. Dann habe ich halt die Option zu sagen: Das Wetter ist schön, ich gehe trotzdem und wir sehen uns dann am Nachmittag auf der Kleinen Scheidegg im Bahnhofsbuffet und trinken was zusammen.
Andere würden umdrehen.
Ja, weil sie diese Option nicht haben. Daher gerate ich immer wieder in diese Situationen.
Was machst du als nächstes?
Ich probiere auch wirklich, die Schraube ein bisschen zurückzudrehen. Ich plane zusammen mit (dem deutschen Bergsteiger) Michi Wohlleben eine Traverse in den Alpen, alle Viertausender. Dabei wollen wir einfach auch Spaß haben zu klettern. Im Herbst gehe ich zum Nuptse, wo ich mit Colin Haley die Route von Valeri Babanov im Alpinstil wiederholen möchte.
Zur Erklärung: Den Russen Valerij Babanov und Yuri Kosholenko gelang es 2003 erstmals, den Gipfel des 7804 Meter hohen Nuptse East (in der Nachbarschaft des Mount Everest) über den Südpfeiler zu besteigen. Bis auf eine Höhe von 6400 Meter legten sie Fixseile – was in der Kletterszene zu einer Kontroverse über ihren Stil führte. Die Route sei durch Haken und Fixseile „entweiht worden“, kritisierte der US-Kletterer Steve House, der 2002 im Alpinstil auf derselben Route eine Höhe von 7200 Metern erreicht hatte. Babanov konterte: „Der Berg wartet. Du brauchst einfach nur hinzugehen und zu klettern!“ Genau das will Ueli nun machen.