Miss Hawley: „Ich bin einfach nur eine Chronistin“
Als ich den Käfer sah, wusste ich, dass ich richtig war. Ich kannte die Straße, hatte aber keine Hausnummer, nur eine grobe Beschreibung, wo Miss Hawley in Kathmandu wohnt. Doch da stand er im Hof: der hellblaue VW-Käfer, Baujahr 1963. „Klar fährt er noch. Diese Käfer sind wirklich unglaublich langlebig“, sagt die legendäre Chronistin des Himalaya-Bergsteigens. Seit Jahrzehnten fährt die US-Amerikanerin mit dem hellblauen Auto vor den Hotels Kathmandus vor, um Bergsteiger zu ihren Himalaya-Expeditionen zu befragen. Die 92-Jährige sitzt allerdings nicht mehr selbst am Steuer, sondern lässt sich in ihrem Käfer chauffieren. „Ich kann doch mit Gehhilfe kein Auto fahren“, sagt Elizabeth Hawley und lacht verschmitzt. Seitdem sie sich die Hüfte gebrochen habe, sei sie nicht mehr ganz so mobil wie früher.
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Seit 1960 lebt Miss Hawley in Kathmandu. Seitdem hat sie in ihrer Chronik „Himalayan Database“ mehr als 4000 Expeditionen erfasst. Anfang arbeitete sie für die Nachrichtenagentur Reuters. „Damals wurde Bergsteigen ein wichtiger Bestandteil der Arbeit ausländischer Korrespondenten in Nepal“, erinnert sich Hawley. Von den Everest-Erstbesteigern Edmund Hillary und Tenzing Norgay, über Reinhold Messner bis zu den Kunden der kommerziellen Expeditionen dieser Tage – die Chronistin hat alle Typen von Bergsteigern getroffen. Ich möchte von ihr wissen, ob heute mehr geflunkert wird als früher. „Ist der Prozentsatz der Lügner pro Expedition wirklich angestiegen? Ich glaube nicht“, sagt Miss Hawley. „Die kommerziellen Bergsteiger prahlen vielleicht eher mit ihren Erfolgen.“
Viele nicht ertappt
Der höchste Berg, den sie selbst je bestiegen habe, sei nur rund 1000 Meter hoch gewesen, erzählt die alte Dame. „In Vermont in New England. Aber ein Berg? Nein, eigentlich war es eher ein Hügel wie die hier rund um Kathmandu.“ Trotzdem gelang es der US-Amerikanerin immer wieder, Bergsteiger, die vorgaben, Achttausender oder andere hohe Gipfel in Nepal bestiegen zu haben, als Lügner zu ertappen. Einige seien von anderen Bergsteigern beobachtet worden, andere hätten sich in Widersprüche verstrickt: „Manch einer klang wirklich verdächtig. Aber ich bin mir sicher, dass mir auch viele durch die Lappen gegangen sind.“
Auf dem Rücken des Sherpas
Sie schildert den Fall des Japaners Tomiyasu Ishikawa, der 2002 den Everest von Norden aus bestieg. Der 65-Jährige war „damals der Älteste, der den Gipfel erreicht hatte, aber hatte er ihn auch bestiegen? Wie viele bemerken diesen kleinen Unterschied?“, fragt Miss Hawley. Der Japaner sei im Gipfelbereich müde geworden. „Er erreichte den Gipfel auf dem Rücken eines Sherpas.“ Altersgrenzen für Everest-Bergsteiger nach oben – wie von der nepalesischen Regierung 2015 angekündigt – hält Miss Hawley für überflüssig, für junge Menschen befürwortet sie dagegen strengere Regeln: „Kleine Kinder sollten nicht auf Berge steigen, schon gar nicht auf den Everest. Sie sind nicht stark und entwickelt genug, sowohl körperlich als geistig.“
An den Tisch geklammert
Die anstehende Frühjahrssaison erwartet Miss Hawley mit Spannung: „Ich bin wirklich neugierig, was in diesem Jahr passiert. Wahrscheinlich wird die Zahl der Bergsteiger geringer ausfallen, weil die Leute Angst vor weiteren Erdbeben haben. Wir haben ja immer noch gelegentlich Nachbeben.“ Das verheerende Beben am 25. April 2015 habe sie in ihrem Haus erlebt. „Ich saß am Tisch und habe mich einfach festgehalten. Du wartest, bis es vorbei ist und dann machst du einfach weiter.“ Wie viele andere in Nepal spricht auch Miss Hawley von einem noch stärkeren Beben, das bevorstehen könnte. „Ich hoffe, ich bin dann wieder in der Nähe meines stabilen Tisches“, sagt die 92-Jährige und lacht.
Die Nachfolgerin
Die Arbeit an ihrer Himalaya-Chronik will Miss Hawley an ihre deutsche Assistentin Billi Bierling übertragen. „Vielleicht weiß sie es, vielleicht auch nicht. Wir arbeiten sehr gut zusammen. Sie ist gut, sie ist verrückt, sie ist schnell.“ So ganz kann sich Elizabeth Hawley allerdings selbst noch nicht vorstellen, sich völlig auszuklinken: „Es hängt davon ab, wie es klappt. Vermutlich werde ich sie auch mal kritisieren. Aber ich hoffe, ich mache es nicht.“
Ohne Allüren
Kürzlich hat die nepalesische Regierung einen Sechstausender „Peak Hawley“ getauft. „Kein Berg sollte nach einer Person benannt werden und ganz bestimmt nicht nach mir“, wiegelt Miss Hawley ab. „Ich dachte, es sei ein Scherz.“ Sie solle es als Auszeichnung nehmen, entgegne ich. „Von mir aus, aber eine lustige Auszeichnung“, sagt Hawley kichernd. Mit Spitznamen kann sie auch nichts anfangen. Ich erwähne „Mama Himalaya“, „Miss Marple von Kathmandu“ und „Sherlock Holmes der Berge.“ Miss Hawley grinst: „Ganz ehrlich, diese Bezeichnungen habe ich noch nie gehört. Die kannst du behalten. In einem Buch und einem Dokumentarfilm wurde ich auch schon als ‚Wächterin der Berge‘ bezeichnet. Ich bewache sie doch nicht. Ich bin einfach nur eine Chronistin.“