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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Überlebt, verarbeitet: Ein Jahr nach der Manaslu-Lawine

Manaslu, der „Berg der Seele“

Am Jahrestag des Lawinenunglücks am Manaslu hatte Sebastian Haag „einen schweren Kater“. Er habe schlicht beim Wiesn-Anstich zum Auftakt des Münchner Oktoberfestes zu tief ins Glas geschaut, erzählt mir Sebastian beim IMS in Brixen. Mit den Ereignissen im Herbst 2012 am Manaslu habe das nichts zu tun gehabt. „Wir haben dort keine Freunde verloren. Ich habe andere Traumata erlebt, wo ich Menschen verloren habe, die ich sehr geliebt habe“, sagt der 34-Jährige. Zum Beispiel seinen Bruder. Der stürzte beim Bergsteigen in den Tod, als eine Wächte brach. „Die Erfahrung am Manaslu war dagegen – in Anführungszeichen – nur intensiv.“

 Instinktiv funktioniert

22. September 2012: Am achthöchsten Berg der Erde erwischt am frühen Morgen eine riesige Lawine gleich zwei Hochlager auf über 6000 Metern. Sebastian Haag und Benedikt Böhm entkommen der Katastrophe, weil sie ein ungutes Gefühl hatten und ihr Zelt weit abseits der anderen aufgebaut haben. Elf Bergsteiger kommen ums Leben. Dass nicht mehr Opfer zu beklagen sind, ist auch den beiden Deutschen zu verdanken. Sebastian und Benedikt graben Verschüttete aus und leisten erste Hilfe. „Wir haben einfach das gemacht, was wir für richtig gehalten haben, wir haben instinktiv funktioniert“, erinnert sich Benedikt. „Das ist eine Mischung aus Wissen, Erfahrung und unmittelbarer Wahrnehmung.“

Nicht den Schwanz einziehen

Drei Teammitglieder kehren nach dem Lawinenunglück heim, drei bleiben, darunter Böhm und Haag. „Für mich hätte ein Abschied bedeutet, dass ich den Schwanz einziehe und vor der Katastrophe weglaufe“, sagt Sebastian. „Ich blieb nicht, weil ich unbedingt den Berg noch machen wollte, sondern weil ich das Gefühl hatte, ich muss an dem Berg sitzen, ihn anschauen, mit den Leuten reden und erst einmal wahrnehmen, was da passiert ist.“ Dann brechen beide auf, um doch noch ihr Expeditionsziel zu erreichen: Nonstop vom Basislager bis zum Gipfel, von dort mit Skiern zurück ins Basislager, das Ganze innerhalb von 24 Stunden.  Die beiden haben sich bereits zuvor einen Namen als äußerst schnelle Skibergsteiger gemacht. Am Achttausender Gasherbrum II und am Siebentausender Mustagh Ata stellten sie Geschwindigkeitsrekorde für Aufstieg mit anschließender Skiabfahrt auf.

Sebastian Haag: Ich wollte nicht einfach weglaufen

Unglück ausgeblendet

Sebastian Haag (l.) und Benedikt Böhm

Diesmal erkennt Sebastian auf etwa 8000 Metern Höhe, dass nicht alles zusammenpasst, es einfach nicht sein Tag ist. Er kehrt um. „Ich wäre auf jeden Fall hochgekommen, aber ich weiß nicht, ob ich auch heruntergekommen wäre“, erzählt Haag. „In meinen jüngeren Jahren hätte ich es vielleicht versucht und mich wahrscheinlich abgeschossen, aber vielleicht hätte ich es auch geschafft.“ Benedikt erreicht den Gipfel ohne seinen Freund. Nach 23,5 Stunden ist er wieder zurück im Basislager. Rekord. Ziel erreicht. Den Gipfelerfolg widmet der 36-Jährige den Opfern der Lawine. Während des Aufstiegs habe er das Unglück jedoch „vollkommen ausgeblendet“, sagt Benedikt. „Man braucht einen hundertprozentig freien Kopf, um das Risiko richtig einschätzen zu können und die richtigen Entscheidungen zu treffen.“  

Benedikt Böhm: Katastrophe bei Gipfelgang ausgeblendet

Sehnsucht nach intensivem Leben

2014 planen die beiden Münchner wieder eine schnelle Skibesteigung eines Achttausenders. Shishapangma, Cho Oyu, Makalu und Dhaulagiri sind als Ziele in der engeren Wahl. Böhm hat ein Jahr ohne Expedition hinter sich. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe als Geschäftsführer eines Skitouren-Ausrüsters – und genoss viel Zeit mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn. Allerdings, räumt Benedikt selbstkritisch ein, falle es ihm „wahnsinnig schwer, einen Strandurlaub zu machen. Es ist einfach dieses intensive Leben, im Beruf, aber natürlich auch im Bergsteigen, das mir fehlt, sobald ich es nicht mehr habe.“

Benedikt Boehm: Strandurlaub fällt mir schwer

250 Kilometer durch den Dschungel

Sebastian Haag hat in diesem Jahr an vielen Trailrunning-Wettbewerben teilgenommen und auch Erfolge gefeiert. So wurde er kürzlich in Brasilien bei einem Dschungellauf über 250 Kilometer Dritter. „Beim Start war mir total egal, welche Insekten oder Schlangen da lauern, völlig wurscht. Es gibt Momente,  wo man das Gehirn ausschalten muss, und solche, wo man es anlassen muss“, sagt Sebastian.  Das Lawinenunglück am Manaslu habe ihn nicht vorsichtiger gemacht. „Natürlich kann uns, wie allen anderen auch, etwas passieren. Davor ist niemand gefeit, auch wenn du noch so vorsichtig bist. Und wenn du zu vorsichtig bist, musst du eben zu Hause bleiben, auf die Zugspitze steigen oder beim Münchner Stadtmarathon mitmachen.“

Sebastian Haag: Gehirn aus- und einschalten, je nachdem

P.S. Im Herbst 2012 waren rund 200 Bergsteiger am Manaslu, so viel wie nie zuvor. Der Grund: China hatte keine Genehmigungen für die Achttausender Shishapangma und Cho Oyu ausgestellt hatten. Auch deshalb gab es so viele Opfer. Eher ungewöhnlich war auch der Standort von Lager zwei auf 6300 Metern, wo viele Bergsteiger von der Lawine überrascht wurden. 2007 hatte unser Expeditionsleiter Ralf Dujmovits auf ein Zwischenlager in dieser Höhe verzichtet – wegen der Lawinengefahr.

Datum

29. Oktober 2013 | 15:47

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