Sharma: „Ich bin eher ein Strandmensch“
Eigentlich empfiehlt es sich, zurückhaltend mit Superlativen umzugehen. Doch dass Chris Sharma seit vielen Jahren zu den besten Felskletterern der Welt gehört, ist unumstritten. Der 35 Jahre alte US-Amerikaner und der 24 Jahre alte Tscheche Adam Ondra sind bisher die einzigen Kletterer, die eine Route im Schwierigkeitsgrad 9 b+ (nach französischer Skala) gemeistert haben – teilweise extrem überhängend, eigentlich unmöglich zu klettern. Derzeit das Maß aller Dinge. Chris lebt mit seiner Frau Jimena Alarcon und der gemeinsamen kleinen Tochter Alana in Barcelona.
Chris, du klettert schon seit so vielen Jahren auf höchstem Niveau. Glaubst du, dass du es eines Tages leid wirst?
Für mich ist Klettern mein Leben, meine Leidenschaft, der Weg, mich selbst zu verwirklichen. Ich glaube nicht, dass ich das Klettern jemals leid werde. Es ist so eng damit verbunden, wer ich bin, und ich bin so dankbar für die Rolle, in der ich mich gerade befinde. Wenn wir durch die verschiedenen Phasen unseres Lebens gehen, wechselt auch unser Verhältnis. Ich bin jetzt ein Vater, ich habe eine Tochter. Selbstverständlich ändert das auch ein bisschen meine Beziehung zum Klettern, aber eigentlich verstärkt es sogar meine Leidenschaft für den Sport. Bei jedem Eintritt in eine neue Lebensphase hatte ich das Gefühl, dass meine Liebe zum Klettern eher noch tiefer wurde. Ich empfinde das Klettern noch leidenschaftlicher als vorher.
Chris Sharma: My love of climbing is deepening
Denkst du, dass du deine Leistungsgrenze schon erreicht hast oder sie noch weiter hinausschieben kannst?
Ich habe das Gefühl, dass ich noch härtere Sachen klettern kann. Es ist interessant, auch nach mehr als 20 Jahren Klettern noch in der Lage zu sein, sich weiter zu steigern. Klettern hat so viel mit Vorwärtskommen zu tun. Es gibt verschiedene Wege, sich als Kletterer weiterzuentwickeln. Klar, ein Weg ist, immer schwierigere Routen zu klettern. Das hat mich sehr inspiriert und angetrieben. Aber es gibt auch noch viele andere Wege, unsere Erfahrungen als Kletterer zu vertiefen. Und sie alle bringen uns weiter. Ich empfinde es zum Beispiel als Fortschritt für mich, dass ich eine Kletterhalle gegründet habe, um dort meine Leidenschaft mit anderen Kletterern zu teilen. Unsere Lebensreise und das Klettern sind total eng miteinander verbunden. So wie wir uns als Menschen auf verschiedene Weisen entwickeln, entwickelt sich auch unsere Beziehung zum Klettern auf verschiedene Weisen weiter.
Du bist inzwischen 35 Jahre alt. Andere Sportkletterer sagen, sie hätten in diesem Alter ihren Zenit überschritten. Hast du das Gefühl, dass auch du deine Prioritäten ändern musst?
Im Augenblick habe ich noch das Gefühl, auf meinem höchsten Niveau zu klettern. Diese Notwendigkeit ergibt also jetzt noch nicht. Aber wie ich eben schon sagte, ist es wichtig, das Ganze in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Das Schöne am Klettern ist, dass es sich nicht um eine typische Sportart handelt, wie Turnen oder Fußball. Es ist eher ein Lebensstil, den du dein ganzen Leben lang beibehalten kannst. Dies nur auf extremes Sportklettern zu reduzieren, ist eine sehr eingeschränkte Sichtweise. Im Augenblick fühle ich noch die Möglichkeit in mir, mich weiter zu steigern. Und selbstverständlich verfolge ich dieses Ziel auch. Aber es ist eben nur eine Seite der Erfahrungen eines Kletterers. Kleine Kinder klettern genauso wie alte Leute über 70. Es gehört wirklich zum Wesen des Kletterns, die eigenen Ziele hinauszuschieben, etwas auszuprobieren, was jenseits deiner Komfortzone liegt und dir vielleicht unmöglich erscheint. Und wenn du dann hart für diese Ziele arbeitest, merkst du plötzlich, dass du viel mehr erreichen kannst, als du vorher gedacht hast. Ganz egal ob du eine 6a- oder 9a-Route kletterst, es ist die gleiche Erfahrung – für dich, für mich, für irgendwen.
Chris Sharma: The essence of climbing
Du lebst seit langem in Spanien. Bist du ein Sonnenkletterer, der einfach warmes Wetter braucht?
Ich komme aus Santa Cruz in Kalifornien, einer Surfer-Stadt. Als ich mit Klettern angefangen habe, bin ich in eine Kletterhalle gegangen. Ich war wirklich einer der ersten dieser neuen Kletterer-Generation, die aus den Kletterhallen kommt. Ich habe meine ersten Erfahrungen nicht so gemacht wie vielleicht andere Leute in den Alpen. Meine erste Verbindung zum Klettern lief über das Sportklettern. Heute liebe ich „Psicobloc“, Solos über tiefem Wasser [Klettern an Küstenfelsen, solo, ohne Seil und Sicherung. Wenn man abrutscht, fällt man ins Meer.]. Das verbindet meine zwei Welten, die Berge und das Meer. Ich bin eher ein Strandmensch als ein Bergmensch.
Viele Sportkletterer, die älter werden, wenden sich dem Himalaya zu und sagen: Wir sind gute Felskletterer, haben jede Menge Erfahrung und versuchen nun, unsere Kletterfähigkeiten in niedrigerer Höhe auf die hohen Wände zu übertragen. Ist das auch für dich eine Option?
Ich weiß es noch nicht. Ganz ehrlich, im Augenblick kann ich es mir noch nicht vorstellen. Ich habe noch eine Menge Dinge abzuarbeiten, die näher vor meiner Haustüre liegen. Aber ganz ausschließen möchte ich es nicht. Mal sehen, was passiert. Eigentlich bin ich offen für alles.
Bist du schon im Himalaya gewesen?
Ich war in Indien und Nepal, aber nur um dort herumzulaufen, nicht um Berge zu besteigen.
Hat es dich nicht gepackt, als du diese Berge gesehen hast? Hast du nicht gedacht: Dort muss ich raufklettern?
Ich empfinde eine große Wertschätzung für Berge und alpines Klettern. Aber ehrlich, die Gefahren des Himalaya-Bergsteigens mit den Lawinen und all dem Kram interessieren mich im Augenblick nicht so sehr.
Spricht da gerade der Vater?
Na klar. Für die Leute, die das machen, ist es ihre Leidenschaft. Aber es nur so nebenher zu machen, ist das Risiko nicht wert. Wenn du es als deine Bestimmung im Leben empfindest, nimmst du das Risiko in Kauf. Aber ich bin kein Bergkletterer, ich bin eher ein Küstenfels-Kletterer. Ich denke, egal was du machst, du musst fokussiert und entschlossen sein, die Sache durchzuziehen. Zumindest im Augenblick empfinde ich das nicht für das Himalaya-Bergsteigen. Es geht mir nicht nicht durch den Kopf, also macht es auch keinen Sinn, mich damit zu beschäftigen.
Im November 2016 hat Adam Ondra weltweit Schlagzeilen gemacht, als er die „Dawn Wall“ am El Capitan im Yosemite-Nationalpark in acht Tagen frei kletterte. Viele vergleichen Adam und dich. Gibt es so etwas wie einen Wettkampf zwischen euch? Oder würdest du sagen, ich kämpfe nur gegen mich selbst?
Ich würde sagen, ich stehe nur im Wettkampf mit mir selbst. Ehrlich, es ist eine Ehre, mit Adam zu klettern. Ich empfand es oft als ziemlich hart, in der Vergangenheit alle meine Projekte alleine durchzuziehen. Adam und ich sind in Spanien zusammen geklettert. Das macht richtig Spaß und treibt mich auch an. Es gibt so viele verschiedene Weisen, an die Dinge heranzugehen. Stelle dir vor, zwei der besten Musiker der Welt kommen zusammen. Du kannst einen Ego-Trip daraus machen und versuchen herauszufinden, welcher von beiden der bessere ist. Aber das ist eigentlich Verschwendung. Viel interessanter ist es doch, wenn die beiden zusammen musizieren und etwas noch Unglaublicheres hervorbringen. Genau dazu sind Adam und ich in der Lage. Ich finde das richtig cool. Ich schätze Adam, all die Dinge, die er macht. Und ich genieße es, mit ihm zusammen zu klettern.
Was empfindest du, wenn du ein Kletterprojekt erfolgreich beendet hast?
Wie ich schon sagte, ist Klettern für mich die Art, mein Potential zu entfalten. Ich widme dem Klettern mein Leben. Und wenn du dann diese Augenblicke erlebst, in denen alles perfekt zusammenpasst, sind es fast übersinnliche, magische Momente.