Vor 100 Jahren: Paul Preuß stürzt in den Tod
Sein Name klingt wie ein Schimpfwort aus den Bergen. Doch der „Preuß“ ist keiner. Paul Preuß kommt 1886 in Altaussee zur Welt – im Salzkammergut, wo seine Eltern aus Wien und später er selbst und die beiden Schwestern die Sommermonate verbringen. Mit elf beginnt Paul bergzusteigen und sammelt Gipfel wie andere Briefmarken. Als Jugendlicher verblüfft er durch eine sehr spezielle Übung: Preuß stellt zwei Gläser mit der Öffnung nach unten auf einen Schrank und macht an ihnen Klimmzüge. Von 1908 an werden Pauls Touren immer extremer. Preuß klettert schwierigsten Touren in den Westalpen, den Dolomiten und im Wilden Kaiser. „Sein Klettern war am ehesten dem Tanzen zu vergleichen, so schwerelos, so ohne Mühe, so durchaus lustbetont ist es erfolgt“, erinnert sich später sein Freund Alexander Hartwich.
Pointenlose Witze
1911 klettert Preuß alleine und ohne Seilsicherung (neudeutsch: free solo) durch die Totenkirchl-Westwand im Kaisergebirge, eine Woche später im gleichen Stile auf teilweise neuer Route durch die Ostwand der Guglia di Brenta im Trentino. Allein in jenem Jahr besteigt er innerhalb von vier Monaten 93 Gipfel, viele davon über schwerste Routen. Zweifellos gehört Preuss zu den besten Kletterern seiner Zeit. Er studiert inzwischen in München Biologie und findet dort viele Gleichgesinnte, die mit ihm auf Kletter- oder Skitour gehen. Preuss ist eloquent, geistreich und humorvoll. „Es war eine der schrecklichsten Eigenschaften unseres lieben ‚Preußerl‘, dass er dieselben faulen, alten, unerhört pointenlosen Witze zehnmal am Tage zu reißen pflegte, und doch haben wir zehnmal darüber gelacht“, schreibt sein Kletterkamerad Walter Bing später. „Leuten, die er nicht leiden mochte, gab er stets recht. Je lieber er einen Menschen hatte, desto eifriger stritt er sich mit ihm.“
Plädoyer für Freiklettern
Auch öffentlich hält Preuss nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg. In der „Deutschen Alpenzeitung“ bricht er mit einem flammenden Plädoyer für das Freiklettern den so genannten „Mauerhaken-Streit“ vom Zaum. „Wenn man an steilen Wänden mit absoluter Sicherheit nur turnen will, etwa an dreifachen Seilen oder einem aufgespannten Sprungtuch, dann soll man doch lieber zu Hause blieben und seine Geschicklichkeit im Turnverein erproben“, schreibt Preuß. „Wenn man eine Kletterstelle nicht auch ohne Sicherung gehen kann – vom alpinistischen und sportlichen Standpunkt aus -, darf man sie dann überhaupt nicht gehen.“
Schön klettern ist sicher klettern
Ein Aufschrei geht durch die Kletterszene. Einen „neuerstandenen Puritaner der Felskletterei“ nennt Franz Nieberl den Österreicher: „Herr Preuß mag ein Ideal anstreben, das glaube ich ihm gern, es ist ein kaltes, starres, frostiges Ideal.“ Er treibe junge Menschen in den Tod, lautet der Hauptvorwurf gegen Preuß. Der wehrt sich: „Wir werden wissen, wie sie zu erziehen sind, damit sie Bergsteiger werden und nicht Handwerker der edlen Bergsteigerkunst, Bergsteiger und nicht Problem- und Rekordmarder.“ Seine Philosophie bringt Preuß so auf den Punkt: „Schön klettern, in technischer wie ideeller Beziehung, heißt gut klettern, gut klettern sicher klettern.“
Absturz am Mandlkogel
Vermutlich am 3. Oktober 1913, heute vor 100 Jahren, stürzt Paul Preuß an der Nordkante des Nördlichen Mandlkogels im Dachsteingebirge in den Tod. Wieder ist er alleine aufgebrochen. Erst elf Tage später wird seine Leiche gefunden. In der Mitteilung des Alpenvereins über Preuß‘ Tod klingt noch der Mauerhaken-Streit nach: „Ob nun der so sehr früh Dahingeschiedene nicht doch vielleicht gegen diese von ihm selbst aufgestellte Forderung gesündigt hat? Vielleicht ist ihm gerade seine übergroße Leistungsfähigkeit im Felsklettern dadurch zum Verhängnis geworden, dass sie ihn die Größe der Gefahren nicht mehr recht abschätzen und den eigenen Fähigkeiten zu viel zutrauen ließ.“
Die „Sechs Gebote“
Paul Preuß wird nur 27 Jahre alt. Seine Routen und Ideen überleben ihn. Auch 100 Jahre nach seinem Tod haben sie nichts von ihrer Faszination verloren. Viele Freikletterer unserer Tage wie Alexander und Thomas Huber berufen sich auf den Topkletterer und Visionär aus Österreich. Die „Preußchen Grundsätze“ lesen sich (wenn man Mauerhaken durch Bohrhaken ersetzt) auch heute noch wie die „Sechs Gebote fairen Bergsteigens“:
- Bergtouren, die man unternimmt, soll man nicht gewachsen, sondern überlegen sein.
- Das Maß der Schwierigkeiten, die ein Kletterer im Abstieg mit Sicherheit zu überwinden im Stande ist und sich auch mit ruhigem Gewissen zutraut, muss die oberste Grenze dessen darstellen, was er im Aufstieg begeht.
- Die Berechtigung für den Gebrauch von künstlichen Hilfsmitteln entsteht daher nur im Falle einer unmittelbar drohenden Gefahr.
- Der Mauerhaken ist eine Notreserve und nicht die Grundlage einer Arbeitsmethode.
- Das Seil darf ein erleichterndes, niemals aber das alleinseligmachende Mittel sein, das die Besteigung der Berge ermöglicht.
- Zu den höchsten Prinzipien gehört das Prinzip der Sicherheit. Doch nicht die krampfhafte, durch künstliche Hilfsmittel erreichte Korrektur eigener Unsicherheit, sondern jene primäre Sicherheit, die bei jedem Kletterer in der richtigen Einschätzung seines Könnens zu seinem Wollen beruhen soll.
P.S. Die Zitate sind aus Reinhold Messners Buch „Paul Preuß“ entnommen, das der Deutsche Alpenverein 1996 herausgegeben hat.