Neue Everest-Regeln: Mit Kanonen auf Spatzen schießen
Keine Permits mehr für Solobergsteiger, Blinde und beidseitig Beinamputierte – folgt man der Argumentation der nepalesischen Regierung, macht das die höchste Berge der Welt sicherer. Ein Blick auf die Fakten zeigt, dass hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird. Sehen wir uns beispielsweise das Geschehen am Mount Everest an. Die Himalayan Database (inzwischen für alle frei zugänglich, also auch für die Regierung Nepals) verzeichnet bisher 1967 Expeditionen zum höchsten Berg der Erde. Davon werden nur sechs – sprich 0,3 Prozent – als Soloexpeditionen eingestuft.
Nur Marshalls Soloversuch 1987 endete tödlich
Reinhold Messners Aufstieg im Sommer 1980 auf der tibetischen Nordseite war der erste und bisher einzig erfolgreiche. Im Sommer 1986 und Frühjahr 1987 versuchte es der Kanadier Roger Gough Marshall vergeblich alleine durch die Nordwand. Im ersten Anlauf schaffte er es bis auf 7710 Meter – im zweiten auf 7850 Meter; beim Abstieg stürzte er 300 Meter oberhalb des Zentralen Rongbuk-Gletschers tödlich ab. Im Winter 1992 brach der Spanier Fernando Garrido seinen Soloversuch auf der nepalesischen Südseite auf 7750 Metern ab.
Hinzu kommen die beiden gescheiterten Versuche des Japaners Nobukazu Kuriki im Herbst 2016 (bis auf 7400 Meter in der Nordwand) und im Frühjahr 2017 (bis auf 7300 Meter) auf der tibetischen Nordseite. Seine anderen „Solo“-Versuche auf der Südseite und über den Westgrat werden nicht als Alleingänge gewertet, weil er über den von den „Icefall doctors“ präparierten Khumbu-Eisfall aufgestiegen war und teilweise andere Expeditionsmitglieder mit ihm Lager 2 erreicht hatten.
0,3 Prozent Bergsteiger mit Handicap
Auch die Zahl behinderter Bergsteiger am Everest ist statistisch gesehen zu vernachlässigen. Die Datenbank weist unter den 13.952 registrierten Everest-Expeditionsmitgliedern gerade einmal 44 Bergsteiger mit Handicap aus, das sind 0,3 Prozent – wobei hier alle Arten von Behinderungen zusammengefasst werden, z.B. auch die neun amputierten Finger Kurikis. 15 der notierten behinderten Bergsteiger erreichten den Gipfel auf 8850 Metern. Zwei starben: 2006 der sehbehinderte Deutsche Thomas Weber (auf 8700 Metern wahrscheinlich an einem Schlaganfall, nachdem er knapp unterhalb des Gipfels umgekehrt war) und 2014 Phur Temba Sherpa, dessen Behinderung in der Datenbank nicht näher spezifiziert ist (er starb beim Lawinenunglück am 18. April 2014 im Khumbu-Eisbruch).
Nimmt man den tödlichen Absturz des Solo-Bergsteigers Marshall hinzu, hätten wir also maximal drei Todesfälle aus der von der Regierung Nepals ausgemachten „Risikogruppe“ – bei insgesamt 290 Toten am Everest sind das rund ein Prozent der Fälle.
Beinamputierter hält an Everest-Plan fest
Hari Budha Magar ist einer der Bergsteiger, die nach den neuen Vorschriften in diesem Frühjahr kein Permit erhalten sollen. Der 38 Jahre alte Nepalese hat als Soldat des britischen Gurkha-Regiments bei einer Bombenexplosion 2010 in Afghanistan beide Beine oberhalb der Knie verloren. Hari bezeichnete die Entscheidung der Regierung Nepals auf Facebook als „diskriminierend“ und als „Verletzung der Menschenrechte“. Er werde sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. „Ich werde alle Optionen in Erwägung ziehen“, sagte Budha Magar. „Wenn ich von Tibet aus klettern muss, werde ich das tun, wenn ich vor Gericht gehen muss, werde ich auch das machen.“
Rückendeckung erhielt Hari von der US-Botschafterin in Nepal. „Fähigkeit, nicht eine vermeintliche Unfähigkeit muss die Regeln bestimmen, wer zum Mount Everest gehen darf“, twitterte Alaina B. Teplitz. „Bergsteiger wie Hari Budha Magar sollten nicht aufgrund falscher Annahmen über ihre Leistungsfähigkeit ausgeschlossen werden.“