Thomas Huber: „Die Krux ist nicht die Wand, sondern der Mensch“
Ein Fußballer würde sagen, der Ball hatte ein Ei. „Die Expedition ist definitiv unrund gelaufen“, erzählt mir Thomas Huber über seine Reise zum Latok I in Pakistan. Wie berichtet, hatte sich der ältere der beiden Huberbuam zusammen mit Toni Gutsch und Sebastian Brutscher an der Nordseite des 7145 Meter hohen Granitriesen im Karakorum versuchen wollen – nur wenige Wochen nach seinem 16-Meter-Sturz aus einer Felswand und darauf folgender Operation am Kopf. Damit begann eigentlich schon die Unwucht der Expedition. „Wir konnten uns gar nicht richtig als Team finden, weil ich so sehr mit meiner Situation nach dem Sturz und der Kopfverletzung beschäftigt war“, räumt Thomas ein. „Dennoch war die Motivation da, das Team passte aus meiner Sicht perfekt zusammen. Diese Euphorie haben wir mitgenommen, nach Skardu, nach Askole, weiter bis ins Basislager am Choktoi-Gletscher. Als wir dort ankamen, waren sich alle einig: Das hier ist der Platz für Bergsteigen in höchster Vollendung. Doch dann ist alles anders gelaufen.“
Nur die Skier gefunden
Erst war Thomas Hubers Hilfe bei einer Rettungsaktion am nahe gelegenen Ogre II (6950 Meter) gefragt. Dort wurden die beiden US-Kletterer Kyle Dempster und Scott Adamson vermisst, die Tage zuvor in die Nordwand des Fast-Siebentausenders eingestiegen waren. „Ich hatte sie im Vorjahr kennengelernt“, sagt Thomas. „Das waren wirklich lässigen Typen. Sie gehörten zu den besten Alpinisten der USA.“ Huber kennt den Berg gut. 2001 gelang ihm mit den Schweizern Iwan Wolf und Urs Stöcker die zweite Besteigung des Ogre I und die Erstbesteigung des Ogre III.
Zweimal flog Thomas im Rettungshubschrauber mit – in der Tasche seine Notfallmedikamente, weil er nicht wusste, ob er den Flug bis in eine Höhe von 7200 Meter mit seiner Kopfverletzung vertragen würde. Der 49-Jährige hatte keine Probleme, doch von den beiden Vermissten fehlte weiter jede Spur: „Wir haben die geplante Aufstiegsroute durch die Nordwand abgesucht, die Gipfelregion, den Nordwestgrat, über den sie absteigen wollten, sogar die Gletscherspalten am Wandfuß. Wir haben nichts, aber auch gar nichts gefunden.“ Bis auf die Skier der beiden US-Amerikaner am Einstieg der Route.
Die nächste Rettungsaktion
Huber, Gutsch und Brutscher stiegen noch einmal über den Nordwestgrat bis auf 6200 Meter auf, doch auch dort entdeckten sie keine Spur von Dempster und Adamson. Ein Wettersturz zwang das Trio zum Rückzug. Die Suche wurde abgebrochen. Immerhin waren die drei Deutschen jetzt gut akklimatisiert für ihr eigenes Projekt am Latok I. „Aber diese Rettungsaktion hat mich so sehr beschäftigt, dass ich in dieser ersten Phase der Expedition gar nicht an das normale Bergsteigen denken konnte.“ Auch in der zweiten sollte sich das nicht ändern. Max Reichel, als Kameramann im Team, wurde höhenkrank. Ursache: eine verschleppte Herzmuskel-Erkrankung. Die Ärzte in Deutschland entschieden, dass er so schnell wie möglich zurück in die Zivilisation gebracht werden müsse. Thomas begleitete seinen Freund bis zu einem Punkt 40 Kilometer talwärts, 1000 Meter tiefer. Dort habe Max ihn aufgefordert, ins Basislager zurückzukehren, weil er noch etwas vorhabe, erzählt Thomas: „Das hat mich total befreit. Ich wollte jetzt endlich nur noch ans Bergsteigen und nicht anderes mehr denken.“
Kalte Dusche
Voller Euphorie kehrte er ins Basislager zurück. Dort erwartete ihn jedoch eine neuerliche kalte Dusche – die letzte. Hubers Teamgefährten Gutsch und Brutscher eröffneten ihm, dass sie nicht bereit seien, in die Nordwand einzusteigen. „Sie haben gesagt, sie hätten ein schlechtes Gefühl. Sie sähen nicht die Möglichkeit, bei diesen Verhältnissen die Wand zu durchsteigen. Sie wollten es nicht einmal versuchen.“ Thomas Huber fiel in ein tiefes emotionales Loch: „Traurigkeit, totale Enttäuschung, auch Wut. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass sie von jetzt auf gleich sagten, sie wollten heim. Ich habe es nicht verstehen können.“ Aus seiner Sicht seien die Verhältnisse „vertretbar“ gewesen: „Sie waren natürlich nicht optimal. Die Gegend war verschneit, es war relativ kalt. Wirkliche Lawinen gab es in der Wand aber nicht, nur Spindrift. Außerdem glaubte ich, dass sich die Lage durch mehrere Tage schönes Wetter zum Positiven verändern würde. Die Meteorologen sagten gutes Wetter voraus.“ Er habe dennoch keinen Sinn darin gesehen, die beiden zu überreden, sagt Thomas: „Ich kann doch nicht mit solchen Partnern in die Wand einsteigen, die gedanklich schon lange zu Hause sind.“
Wenn der Berg immer größer wird
Für den 49-Jährigen war es ein Deja-vu. Auch 2015 hatten ihn seine damaligen Teamgefährten – sein Bruder Alexander, der Schweizer Daniel Arnold und der Österreicher Mario Walder – überstimmt, die Latok I-Expedition abzubrechen. „Ich kann es niemandem verdenken, wenn er sagt: Thomas, vielleicht stimmt ja bei dir irgendetwas nicht“, sagt Huber. „Es steht 5:1 gegen mich. Und hinter diesen fünf stehen ja wirklich fünf Topbergsteiger. Ich verstehe es irgendwie nicht.“ Vielleicht sei es ja eine Frage der Mentalität: „Ich bin halt jemand, der weniger redet, sondern lieber zum Berg geht und dort erfährt, was der Berg zu bieten hat und wie man mit ihm umgehen muss. Oft wird im Basislager wahnsinnig viel diskutiert. Und ich merke dann, dass während der Diskussion der Berg mental immer größer und schlussendlich unmöglich wird.“ Der Schwung bleibe dann auf der Strecke. „Die große Krux beim Latok ist nicht die Wand, sondern der Mensch. Das Geheimnis dieser Wände ist, was sie aus den Menschen mit der Zeit machen. Sie haben eine dermaßen große Kraft und Ausstrahlung. Auf der einen Seite sind sie magnetisch, auf der anderen furchteinflößend. Um dort nicht in die Knie zu gehen, benötigt man viel Kraft.“
Der Knackpunkt
Thomas Huber hat die Latok 1-Nordwand trotz aller Frustration noch nicht aus seinem Kopf verbannt, will sich jedoch nicht auf einen Zeitpunkt für einen nächsten Versuch festlegen lassen. „Ich habe keine Angst vor dieser Wand und diesem Berg. Ich weiß, ich werde zurückkehren“, sagt Thomas. „Ich habe nur Angst davor, dass ich wieder mit einem Team vor dem Berg stehe, das sagt: Nein, wir wollen nicht gehen.“ Im Nachhinein sei es ein Fehler gewesen loszuziehen, ohne vorher wirklich viel gemeinsam geklettert zu sein, glaubt Thomas: „Diese Berge gehören zu den schwierigsten der Welt. Wenn du sie angehst, musst du schon vorher ein Team sein. Du musst wissen, wie der andere funktioniert, auch seine Abgründe kennen. Erst dann kannst du an die Grenze gehen.“ Warum dann nicht mit seinem Bruder Alexander, mit dem er schon so viel geklettert ist und so vieles in den Bergen durchlebt hat? „Mein Bruder möchte nicht in die Nordwand, das ist vielleicht der große Knackpunkt“, sagt Thomas.