Interview: Die Bedürfnisse von Schülern mit Behinderung
Auf dem Global Media Forum (GMF) habe ich Isabelle und Hendrik getroffen, die auf eine Schule für Kinder mit körperlichen und motorischen Schwierigkeiten gehen und an einem Austauschprogramm ihrer Bonner Schule mit einer tunesischen Schule teilgenommen haben. Momentan wird in Deutschland sehr viel über das Thema Bildung für Menschen mit Behinderungen diskutiert. Denn seit zwei Jahren gilt die UN-Behindertenrechtskonvention – auch in Deutschland. Sie sieht vor, dass auch Kinder mit Behinderung auf die sogenannten Regelschulen gehen. Behinderte sollen so nicht länger aufgrund ihrer Handicaps ausgeschlossen werden. Das Fachwort dafür ist „Inklusion“. Momentan haben Nicht-Behinderte aber noch wenige Berührungspunkte mit Behinderten. Auch ich meist nur durch meinen Onkel, der selbst vor Jahrzehnten auf eine Regelschule ging, heute aber in einem Wohnheim für Behinderte lebt und in einer Behindertenwerkstatt arbeitet. Auch meine Freundin Katharina gibt mir ab und zu Einblicke in den Alltag von Menschen mit Behinderung. Sie macht gerade einen Vorbereitungsdienst, um Förderschullehrerin zu werden, also als Lehrerin mit Schülern zu arbeiten, die eine Behinderung haben. Die richtige, um sich über das Thema Bildung mit Behinderung in Deutschland zu unterhalten.
Katharina, auf dem GMF meinte eine tunesische Lehrerin, dass Schüler mit geistiger Behinderung auf einer Regelschule Nachteile haben im Vergleich zu einer Förderschule. Was sagst du dazu?
Ich denke, sie hat recht. In meiner Klasse habe ich zwei Kinder mit Trisomie 21, also Down-Syndrom, gehabt. Sie kamen nach der vierten Klasse von einer Regelschule zu uns auf die Förderschule. Beide haben z.B. die Technik des Lesens gelernt. Aber sie verstehen nicht was sie lesen; also nicht den Sinn des Textes. Sie sind zu sehr mit dem Prozess selbst beschäftigt. Auch beim Rechnen ist das so: Es sind keine Grundlagen da.
Wäre das denn anders, wenn sie schon früher auf eine Förderschule gegangen wären?
Wahrscheinlich schon. Denn hier machen wir sehr individuellen Unterricht. Die ganze Klasse arbeitet an einem Thema, jeder aber nach seinen Kompetenzen. Wenn man merkt, dass z.B. bei einem Schüler keine Grundlagen in Mathe da sind, wird ihm kein Rechnen beigebracht, denn das ist dann noch gar nicht relevant in seiner Entwicklung. An Regelschulen werden aber bestimmte Grundlagen und Entwicklungsstadien vorausgesetzt. Die Lehrer haben dort gar keine Zeit, sich auf die Kinder mit Behinderung einzustellen und ihnen diese Grundlagen beizubringen.
Welche Grundlagen bringt ihr denn den Kindern bei, bevor sie rechnen lernen können?
Wichtig ist das Erkennen von Regeln. Wir arbeiten sehr spielerisch. Z.B. fädeln unsere Schüler Perlen nach einer vorgegebenen Reihenfolge auf, um mathematische Grundfähigkeiten zu erlernen. Ziel ist es dann erst einmal, dass sie erkennen, dass die Perlenfarbe einem Schema folgt: Immer wieder folgt auf die gelbe Perle die rote, dann die blaue usw. Später dann können die Schüler auch Zahlenreihenfolgen erkennen.
Ihr arbeitet ja nur mit Kindern mit Behinderungen. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention sollen aber zukünftig behinderte und nicht-behinderte Kinder zusammen unterrichtet werden. Denkst du, das ist eine richtige Entscheidung?
Grundsätzlich ist diese gesellschaftliche Entscheidung überfällig. In Deutschland hat man als Nicht-Behinderter keinen wirklichen Bezug zu Behinderten. Aber diese Menschen sind Teil unserer Gesellschaft! Unser Staat hat sie über mehrere Jahrhunderte sehr ausgegrenzt. Auch durch bestimmte Institutionen: Förderkindergarten, Förderschule, Behindertenwerkstatt, etc. So dass man bloß nicht mit ihnen in Berührung kommt. Das finde ich nicht richtig.
Findest du, dass die Politik jetzt auch in der Umsetzung die richtigen Wege geht?
Es ist gut, dass der Handlungsbedarf erkannt wurde. Doch dadurch, dass kein zusätzliches Geld investiert wird in den Bildungszweig, kann nicht jedes Kind so gefördert werden, so dass es einen Schulabschluss bekommt. Die Schulen besitzen oft nicht genügend Mittel, um alle Kinder anzusprechen — auch an Regelschulen. Ich sehe bei allen Reformen noch kein durchdachtes Konzept.
Was bräuchte es, um Kinder mit Behinderungen auch an Regelschulen richtig zu fördern?
Viel kleinere Klassen! 15 Schüler wäre ideal. Es ist wissenschaftlich belegt, dass davon alle Kinder profitieren. Außerdem ist gerade bei Kindern mit Behinderung mehr Personal nötig. Neben dem Regelschullehrer, sollte es einen Sonderschullehrer und am besten noch eine pädagogische Fachkraft geben. Wäre das möglich, dann wäre Inklusion keine Frage, sondern ganz normal. Es sollte erreicht werden, dass jeder nach seinen Möglichkeiten lernen kann. Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In der Schule wird das Problem jetzt angegangen. Aber wir müssen Behinderte auch außerhalb des Klassenzimmers in unserer Gesellschaft voll akzeptieren.