Aufbruch zum Gipfel
Heute morgen sind Gerlinde, Ralf und Hiro vom Basislager aus zu ihrem Gipfelversuch aufgebrochen. Wovor haben sie den größten Respekt? Vor den bergsteigerischen Schwierigkeiten der Supercouloir-Route durch die Everest-Nordwand? Vor den Lawinen, die durch die Rinnen schießen können? Vor dem Steinschlag? Vor einem Wettersturz? Vor der dünnen Luft?
Angst vor dem Auskühlen
Weder noch. Die größten Bauchschmerzen bereitet den drei Bergsteigern die Gefahr auszukühlen. Die kleineren Erfrierungen, zugezogen bei der Besteigung des Achttausenders Shishapangma vor zweieinhalb Wochen, erinnern sie täglich daran, wie schnell die Kälte zuschlagen kann. Und der Mount Everest ist noch gut 800 Meter höher.
Am Gipfel wird der Sauerstoff nur noch mit einem Drittel des Drucks in die Lungen gepresst wie auf Meereshöhe. Die extrem dünne Luft und die körperliche Anstrengung zwingen die Bergsteiger dazu, extrem schnell zu atmen. Dazu kommt der kalte Höhenwind. Gerlinde, Ralf und Hiro werden ihre Körperwärme schneller abgeben, als sie die Temperatur per Fettverbrennung hoch halten können. Das ist in etwa so, als läge man in einer halb gefüllten Badewanne, in die mehr kaltes als warmes Wasser eingelassen wird.
Unkontrolliertes Zittern
Die Folge: der Körper kühlt aus. Alarmstufe Rot. Wie sich das anfühlt, hat Ralf vor neun Jahren erlebt. Da stand er auf dem Gipfel des Fast-Achttausenders Nuptse im Everest-Gebiet und zitterte völlig unkontrolliert. Nur der schnelle Abstieg auf steiler Route rettete ihm das Leben. Heute trägt Ralf in seinen Hemdtaschen Wärme-Pads. Reißt er sie auf, geben sie stundenlang Wärme ab. Mehrere Lagen Daunen sorgen für weiteren Schutz. Dabei stecken die Bergsteiger allerdings in einer Zwickmühle: mehr Kleidung bedeutet zugleich mehr Gewicht, das sie den Berg hinaufschleppen müssen.
Ein Restrisiko bleibt also. Umso wichtiger ist, dass der Wetterbericht für den geplanten Gipfeltag 30. Mai auch wirklich stimmt. Er sagt mit minus 22 Grad Celsius und ca. 40 km/h Wind vergleichsweise moderate Bedingungen am Gipfel des Mount Everest vorher. Ein wenig mehr Wind, und schon sackt das Thermometer in den Keller.
Morgen geht´s los!
Charly hat den Startschuss gegeben. Charly Gabl, Chef des meteorologischen Instituts in Innsbruck, bestätigte telefonisch die positiven Wetter-Prognosen für den möglichen Gipfeltag 30. Mai. Am kommenden Montag, so seine Vorhersage, seien für die Gipfelregion des Mount Everest Windgeschwindigkeiten von 40 Stundenkilometern und eine Temperatur von minus 22 Grad Celsius zu erwarten.
Charly hat immer recht
Gerlinde, Ralf und Hiro vertrauen dem Innsbrucker Wetter-Frosch. Gabl ist selbst Bergführer und Expeditionsbergsteiger. Mehrfach in den vergangenen Jahren hat er Ralf in Richtung eines 8000er-Gipfels losgeschickt, obwohl die Wetterlage alles andere als günstig erschien. Der Himmel riss auf, Charly hatte Recht.
Die drei Bergsteiger werden also am Donnerstagmorgen zum Fuß der Everest-Nordwand aufbrechen, wo sie während der Erkundungstour in der vergangenen Woche einen Teil ihrer Ausrüstung deponiert hatten. Einen halben Tag lang haben Gerlinde, Ralf und Hiro anschließend Zeit, noch einmal die Bedingungen in der „Supercouloir-Route“ zu studieren.
Daumen drücken!
Wenn alle fit und die Verhältnisse gut sind, wollen sie am Freitagmorgen in die Nordwand einsteigen. Das erste Biwak ist in einer Höhe von etwa 6900 Metern, das zweite auf ca. 7400 Metern und das dritte auf 8100 Metern vor dem Einstieg ins „Hornbein-Couloir“ geplant. Immer vorausgesetzt, alles verläuft ohne Zwischenfall, würde das Trio dann am Montagmorgen, 30. Mai, den 8850 Meter hohen Gipfel erreichen.
Der Abstieg ist über die tibetische Normalroute geplant. Hier im Basislager an der Nordwand würden Gerlinde, Ralf und Hiro am 1. Juni eintreffen. Nun heißt es also Daumen drücken! Die tschechische Expedition will abreisen. Den sechs Bergsteigern ist die Wetterprognose zu unsicher. Expeditionsleiter Josef Simunek hat außerdem vom Tod eines Freundes am Achttausender Cho Oyu erfahren: Jetzt reicht es! Finished!
Der Abspann zuerst
Das Lager ist in Bewegung. Der Gipfelversuch steht bevor. Im Laufe des Tages, nach Eingang des Wetterberichts, werde ich Näheres mitteilen können. Wir befinden uns also nach der Zeit des Wartens in der Phase des tiefen Atemholens. Und genau diese Phase möchte ich nutzen, um den Abspann vorzuziehen. Ärgern Sie sich nicht auch über die Unsitte des modernen Fernsehens, nach Spielfilmen den Abspann zu kappen, um direkt den nächsten Werbeblock zu starten? So erfahren wir nicht mehr, wer für den Genuss oder auch die verschenkte Zeit verantwortlich war.
Nicht ohne diese Menschen
Wir sind ein Expeditionsteam von fünf Personen, doch dahinter steht eine wesentlich größere Mannschaft. Hiro ist verheiratet, seine Frau wartet seit zwei Monaten in Tokio auf ihn. Gleiches gilt für Ralfs Sohn Joshi in Bühlertal im Schwarzwald. Gerlinde kommt aus einer großen Familie, die in Spital in Oberösterreich mitzittert und mitfiebert. Unser Koch Sitaram hat sich Anfang April in Kathmandu von seiner Frau und seinen drei Kindern verabschiedet. Meine Frau und fünf Kinder müssen in Köln seit Anfang Mai ohne mich auskommen. Neben diesem engeren Kreis gibt es einen weiteren: Verwandte, Freunde, tolerante Chefs und Kollegen -und auch ein paar Sponsoren, ohne die eine Expedition wie diese nicht zustande käme.
Jetzt kann es spannend werden
Vor allem die Menschen, die uns am nächsten stehen, sind mit uns im Basislager. Wir erzählen von ihnen. Wir spüren, dass sie uns mit ihren Gefühlen begleiten. Ohne sie wären wir Abenteurer, die sich bei näherem Hinsehen als gestörte Einzelgänger entpuppten. Mit ihnen sind wir Abenteurer, die durch ihre sozialen Bindungen stark sind.
Die Statistik belegt, dass der Abstieg vom Mount Everest gefährlicher als der Aufstieg ist. Die Konzentration lässt nach, man macht Fehler. Gerlinde, Ralf und Hiro werden sich zusammenreißen, weil sie wissen, dass viele tausend Kilometer entfernt Menschen auf sie warten. Wenn es in dieser Geschichte so etwas wie Helden gibt, dann sind es jene, die ihre Lieben vor Wochen in eine ungewisse Zukunft haben aufbrechen lassen. Das musste einmal gesagt werden. Und jetzt kann es von mir aus spannend werden.
Rocky der Rehbock
Und wieder machen wir einen Ausflug in die Tierwelt des Basislagers. Keine Angst, es geht nicht darum, unsere Speisekarte um eine weitere gefährdete Spezies zu erweitern. Der imaginäre Menüplan quillt ohnehin über von Schneehuhn in jeglicher Variation.
Nein, jetzt wird ein Loblied gesungen, auf eines der schweigsamsten Tiere überhaupt. Damit hebt es sich mehr als wohltuend vom gemeinen Schneehuhn ab. Die Rede ist vom Himalaya-Rehbock. Ich nenne ihn einfach einmal so, obwohl er wahrscheinlich ebenso wenig ein Rehbock ist wie die von mir besungenen Schneehühner eben solche sind.
Schöngeist mit Einhorn
Der Rehbock hat sich bereits ein Horn abgestoßen, taufen wir ihn also Rocky. Bei seinem friedfertigen Charakter wird es mir allerdings auf ewig ein Rätsel bleiben, warum er als Einhorn durch die Everest-Bergwelt läuft. Wahrscheinlich war es ein Unfall. Schöngeist Rocky war wieder einmal so in Gedanken versunken, dass er den Riesenfelsblock einfach übersah.
Trotz seiner unübersehbaren Blessur hat Rocky die Liebe seines Lebens gefunden und mit ihr ein entzückendes Rehkitz gezeugt. Selbst wenn Rocky samt Familie im Basislager auftaucht – und das geschieht recht häufig – , stört nicht der geringste Ton die Stille des Himalaya. Lautlos schleicht das Trio durch die Ansammlung von Zelten, während fünf Meter entfernt die Schneehühner plärren.
Gemüse-Leckerli
Rocky ist zutraulich. Unser Koch Sitaram hat ihm kürzlich ein wenig Gemüse zukommen lassen. Seitdem nähert sich Rocky morgens schüchtern dem Küchenzelt und bittet mit seinen weit aufgerissenen Rehaugen um ein weiteres Leckerli. Auch wenn er leer ausgeht, dreht er einfach ab: ohne Worte, ohne aggressive Geste.Niemals würde ich auf den Gedanken kommen, Rocky auf unsere Speisekarte zu setzen. Die ist ohnehin bis oben gefüllt mit – Na, Sie wissen schon.
Schlaflose Sorgen
Ich konnte einfach nicht einschlafen. Ich war müde gewesen, als ich mich ins Zelt zurückgezogen hatte. Aber jetzt lag ich da, mit offenen Augen, tausend Gedanken jagten durch meinen Kopf.
Erst dachte ich, es läge an der lauen Nacht. Der Himmel hatte sich bewölkt, die Wärme des Tages hielt länger vor als sonst. Noch gegen Mitternacht zeigte das Thermometer in meinem Zelt plus zwei Grad Celsius. Ich zog die Skisocken und die Wollmütze aus. Keine Wirkung.
Vollmond, Lawinen und Steinschlag
Warum nur konnte ich nicht einschlafen? Ich kroch aus dem Schlafsack, zog mir die Schuhe an und verließ das Zelt. Ich schaute in den inzwischen wieder sternenklaren Himmel: der Mond ein formvollendeter, hell leuchtender Kreis. Vollmond! Na klar. Ich zähle mich zwar nicht unbedingt zu den mondsüchtigen Zeitgenossen, doch das Phänomen, in einer Vollmondnacht schlecht zu schlafen, kenne ich von daheim.
Aber ich war totmüde und konnte doch nicht schlafen. Während ich mich von einer auf die andere Seite wälzte, bündelten sich die Gedanken. Bei geschlossenen Augen stieg ich in die Everest-Nordwand ein. Ängstlich schaute ich nach oben, auf der Suche nach möglichen Lawinen oder Steinschlag. Ich machte mir Sorgen um die mit der Höhe zunehmende Kälte. Ich kalkulierte die Risiken.
Möglicher Gipfeltag: 30 Mai
Das war also der Grund meiner Schlaflosigkeit. Ich hatte gewissermaßen Reisefieber, nur dass ich nicht auf Reisen gehen würde. Am Abend hatte Ralf den neuesten Wetterbericht verlesen und plötzlich kristallisierte sich ein möglicher Gipfeltag heraus: Montag, der 30. Mai. Kaum Wind, annehmbare Temperaturen. Die Spannung im Mannschaftszelt war mit Händen zu greifen, es knisterte förmlich. Gerlindes, Ralfs und Hiros Augen glänzten, die Zeit des Wartens würde enden, die Entscheidung nahen.
Und meine Schlaflosigkeit? Sie zeigt, dass ich mich nicht als Außenstehender, sondern als Expeditionsmitglied fühle – und dass sich der Nicht-Bergsteiger im Team Sorgen um die drei Profi-Bergsteiger macht.
P.S. Irgendwann schlief ich doch – bis mich die Schneehühner weckten, Punkt fünf Uhr!