Erster Test für den Tag X
Heute früh sind Gerlinde, Ralf und Hiro zu einer Erkundungstour aufgebrochen. Ihr Ziel: der etwa sechs Stunden entfernte Fuß der Everest-Nordwand. Sie wollen sich selbst ein Bild von den Bedingungen im so genannten „Supercouloir“ machen und sich nicht auf die Äußerungen der tschechischen Bergsteiger hier im Basislager verlassen, die sich wochenlang die Zähne an der Route ausgebissen haben.
Ein eingespieltes Team
Gerlinde, Ralf und Hiro scheinen froh zu sein, dass es langsam, aber sicher wieder ernst wird. Keine Frage, die Tage der Erholung im Basislager waren nötig. Jetzt aber wartet Chomolungma, die „Göttinmutter der Erde“, wie die Tibeter den Mount Everest nennen. Akribisch haben die drei Bergsteiger vor ihrem Aufbruch das Material zusammengesucht und begutachtet. Sie haben die Spitzen der Eisgeräte ausgetauscht oder die alten geschärft, die Steigeisen geschliffen. Wer jetzt Fehler macht, kann sie später in der Wand nicht mehr korrigieren.
Das Trio wirkt auf mich entschlossen und konzentriert. Keine böse Bemerkung fällt, vieles geschieht ohne Worte – ein eingespieltes Team. Eine Abordnung der Tschechen vergewissert sich, dass Gerlinde, Ralf und Hiro wirklich nur die Lage erkunden und nicht Ernst machen wollen mit dem Gipfel. Die Wetterprognose für die nächsten Tage sei doch schlecht.
Leichtzelt am Wandfuß
Ralf beruhigt die Bergsteiger aus Tschechien. Sie stellen lediglich am Wandfuß ihr Leichtzelt auf und beobachten, ob, wann und wo Lawinen durch die Rinnen schießen oder Felsbrocken talwärts donnern. Wenn die Verhältnisse es zulassen, will das Trio am Donnerstag in den unteren Teil der Route einsteigen, um die Qualität des Eises zu testen. Anschließend legen Gerlinde, Ralf und Hiro ein Materialdepot an und kehren ins Basislager zurück. Bis dahin bleibe ich per Funkgerät mit ihnen in Kontakt, auch das ein Test für den Tag X.
Wir verwildern
Ich bin auf dem besten Weg zum Yeti. Der Dreck steckt inzwischen vielerorts, um nicht zu sagen überall: in den Klamotten, auf der Haut, unter den Fingernägeln. Der Bart sprießt unkontrolliert. Die Haare scheinen sich damit abgefunden zu haben, nicht gewaschen zu werden und jucken nicht mehr. Ich verstecke sie ohnehin meistens unter der Wollmütze.
Die Socken muffeln wie – das überlasse ich der Phantasie der Leser. Warum ich das schreibe? Damit keiner denkt, wir machen uns hier einen Lenz. Wir verwildern, in gewisser Hinsicht und haben dabei noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Denn wir verwildern parallel. So stören weder der strenge Geruch, weil alle so riechen. Noch der wilde Bartwuchs, denn bei den anderen (außer natürlich Gerlinde) sprießen ebenfalls die Stoppeln. Und auch nicht die fettigen Haare, weil wir sie uns alle nicht waschen können. Aber wir putzen uns die Zähne und waschen die Hände vor dem Essen. Das trennt uns noch vom Yeti, oder?
Stelldichein im Mannschaftszelt
Das darfst du keinem erzählen. Hier sitzen deutsche und tschechische Bergsteiger zusammen und trinken chinesisches Bier. Josef Simunek, Leiter der tschechischen Everest-Nordwand-Expedition, klopft sich vor Lachen auf die Schenkel. Zum Stelldichein im Mannschaftszelt der Tschechen haben Gerlinde, Ralf, Hiro und ich sechs Büchsen in China gebrauten Gerstensaftes mitgebracht. Im Gegenzug werden wir mit einem Gläschen Pflaumenschnaps begrüßt, den einer der tschechischen Bergsteiger selbst destilliert hat. Ob das der Grund ist, dass er mir direkt in den Kopf steigt? Im Zweifelsfall ist immer die Höhe schuld!
Das hier ist eine Weltmeisterschaft des Wartens, sagt Josef. Seit Wochen schlägt sich sein Team, zwei Frauen und vier Männer, mit der Supercouloir-Route in der Nordwand herum und ist doch nicht höher als 6900 Meter gekommen. Ihr Stil unterscheidet sich allerdings auch deutlich von dem Gerlindes, Ralfs und Hiros. Die Tschechen haben Fixseile verlegt und versucht, Hochlager zu bauen. Lawinen und Steinschlag haben sie immer wieder zurückgetrieben. Die Moral scheint gedrückt, aber nicht gebrochen. Noch immer hoffen Josef und Co. auf den Erfolg ihres Unternehmens.
Warten auf das Wetterfenster
Empfinden sie Gerlinde, Ralf und Hiro als Konkurrenten? Vielleicht, aber sie lassen es sich nicht anmerken. Die Stimmung ist locker. Noch sitzen alle in einem Boot, das an einer bestimmten Stelle leckt: dem Wetter. Für die nächsten Tage sind kleine Tiefdruckgebiete mit Niederschlägen und starkem Wind im Gipfelbereich vorhergesagt. Noch keine Spur vom heiß ersehnten so genannten Wetterfenster, einer stabilen Schönwetter-Periode von mehreren Tagen vor Beginn des Monsuns.
In der vergangenen Nacht hat es hier im Basislager geschneit. Gerlinde, Ralf und Hiro haben ihre bereits gepackten Rucksäcke wieder ins Zelt gestellt. Eigentlich wollten sie heute zum Wandfuß aufbrechen, um sich selbst ein Bild von den Verhältnissen in der Route zu machen. Vielleicht morgen, oder übermorgen, oder? Für den Erfolg brauchst du Geduld und vielleicht auch chinesisches Bier.
Die Kälte ist der Feind
Bergsteigen ist kein Kinderspiel, schon gar nicht an den höchsten Bergen der Welt. Neben Gefahren wie Lawinen oder Steinschlag lauert ein subtiler Feind: die Kälte. Sie schleicht sich in deinen Schlafsack, kriecht in deine Schuhe, schlägt zu, wenn du die Handschuhe ausgezogen hast, um ein Foto in der Wand zu machen oder um einfach besseren Halt am Fels zu haben. Selbst jetzt zur Mittagszeit im Basislager, in der dich die Sonnenstrahlen umschmeicheln und die Temperatur im Zelt in die Höhe jagt, hat sich die Kälte nicht zur Ruhe gelegt.
Ungebetene Andenken
Ralf brachte eben seine frisch gewaschene Jacke ins Messzelt, der Wind hatte sie steif gefroren. Die drei Bergsteiger haben ungebetene Andenken an ihre Besteigung der Shishapangma mitgebracht. Weil sie ein wenig zu früh in der Nacht zum Gipfel aufbrachen, hat die Kälte sie erwischt. Gerlindes Zehen sind geschwollen und fühlen sich so die Österreicherin – bamstig an, in etwa wie das Zahnfleisch, wenn die Spritze des Arztes noch nachwirkt.
Alles nicht tragisch
Ralfs linker Nasenflügel sieht aus, als hätte man ein Stück Fleisch in der Sonne vergessen. Alle Farbtöne zwischen rot und schwarz sind vertreten. Seine Fingerspitzen sind gefühllos. Einige Monate wird es dauern, bis die Nerven wieder einwandfrei funktionieren. Die böse Kälte hat Hiro am Fuß erwischt, rötlich-braun schimmert die Spitze seines dicken Zehs. Alles nicht tragisch, sagen die drei Bergsteiger. Nichts, das bleibt. Aber ihr Freund wird die Kälte nie.
Ankunft im vorgeschobenen Basislager
Zehn Tage liegen zwischen Kathmandu und dem vorgeschobenen Basislager in 5500 Meter Höhe. Zehn Tage voller Eindrücke im besetzten Tibet, zehn Tage Sonne, Sturm und Schnee, zehn Tage der Akklimatisierung, zehn Tage mit einer Dusche, ohne Rasur, mit zwei Blasen am Fuß und einem angebrochenen Zehnagel.
Auf Yaks nach Nyalam
Im Dorf Nyalam in Tibet auf 3700 Metern Höhe verbrachte ich zwei Tage, in denen ich zwei Mal auf etwa 4800 Meter aufstieg, um mich an die dünne Luft zu gewöhnen. Dann nahmen mich Gerlinde, Ralf und Hiro mit in ihr Basislager an der Südseite der Shishapangma. Sie hatten gerade den Gipfel des 8000ers über eine schwierige Route durch die Südwand erreicht und waren auf der Nordseite abgestiegen. Überschreitung nennen die Bergsteiger das. Nun musste das Basislager in 4800 Metern Höhe abgebaut, in Tonnen, Kisten und Säcke verpackt und auf Yaks nach Nyalam zurück transportiert werden.
Nichts wie weg hier!
Von dort aus fuhren wir am nächsten Tag mit einem Jeep und einem Lkw ins so genannte Chinese Basecamp: eine schreckliche Kleinstadt aus Zelten mit Restaurants, Souvenirshops, Postbüro und jeder Menge Lärm. Mehr als 20 Expeditionen mit über 150 Bergsteigern versprechen eben ein Bombengeschäft. Wir waren uns alle einig: Nichts wie weg hier! Ralf buchte für den nächsten Morgen 13 Yaks, die unsere Zelte, Lebensmittel und sonstige Ausrüstung ins vorgeschobene Basislager bringen sollten.
Willenlose Gummistangen
Den Gipfel des Mount Everest mit seiner charakteristischen Windfahne im Blick machten wir uns auf den Weg nicht wie fast alle anderen Expeditionen zum östlichen, sondern zum zentralen Rongbuk-Gletscher. Siebeneinhalb Stunden über Moränen, kleine und größere Felsbrocken.
Unser vorgeschobenes Basislager liegt auf 5500 Metern in einem windgeschützten Talkessel. Als wir es erreichten, schnaufte ich wie ein Walross in der Sauna. In meinem Kopf schwang wer-weiß-wer den großen Hammer und meine Beine hatten sich in zwei willenlose Gummistangen verwandelt.
Atmung: normalisiert
Anderthalb Tage später hat sich die Atmung wieder normalisiert, der Hammer ruht und die Beine laufen wieder in die Richtung, in die sie sollen. Auch Gerlinde, Ralf und Hiro sammeln Kräfte: für ihren gefährlichen Weg durch die steile Nordwand, hinauf auf den 8850 Meter hohen Gipfel des Mount Everest.