Kleiner Lagerkoller
Zwei Wochen vorgeschobenes Basislager, 14 Tage dünne Luft, schlechter Schlaf, wenig Hygiene, viel Staub und Wind – Zeit für den Lagerkoller? Augenblicklich sitze ich alleine hier, hätte also niemand, an dem ich den Koller auslassen könnte – außer vielleicht an den Schneehühnern.
Fast wie im Sanatorium
Gerlinde, Ralf und Hiro warten noch einmal 1500 Meter höher am Everest-Nordsattel auf ihren Gipfelversuch. Sitaram kehrt erst am Nachmittag aus dem schrecklich-schönen „Chinese Basecamp“ zurück. Aber habe ich überhaupt ein Recht auf Koller?
Mein Tagesablauf ist doch geregelt: 5 Uhr Wecken durch die Schneehühner, zwei Stunden Dösen, Frühstück, Füttern der Internet-User, Lesen oder Gespräche, 12 Uhr Mittagessen, eine Stunde Dösen, ein bis drei Telefonate, Füttern der Internet-User, Lesen oder Gespräche, 18 Uhr Abendessen, Lesen oder Gespräche, Nachtruhe gegen 20.30 Uhr. Kein Stress, kein Fernsehen, kein Sex, kein Alkohol (das chinesische Wasser-Bier zählt nicht). So solide habe ich nicht mehr gelebt, seit ich eingeschult wurde. Fast wie im Sanatorium.
Ewige Gleichförmigkeit
Aber vielleicht lässt gerade diese Gleichförmigkeit die Koller-Kugeln rollen: Wenig bis nichts geschieht! Immer das selbe Zelt! Die selben vor Dreck stehenden Klamotten! Die selben Berge! Die selbe dünne Luft! Die selben dummen Schneehühner! Hilfe, ich will nach Hause!
Keine Ruhetage mehr
Gerlinde, Ralf und Hiro haben das schwere Gewitter der vergangenen Nacht in ihrem Leichtzelt auf dem 7066 Meter hohen Everest-Nordsattel überstanden. „Das war brutal“, sagte Ralf am Satellitentelefon. Stundenlang hätten sie nicht einschlafen können. Immer wieder diese grellen Blitze!
„Wir versuchen es“
Ralf steht in ständigem Telefonkontakt zu Charly Gabl, dem Wetterfrosch aus Innsbruck. Der empfiehlt nun den 2. Juni als optimalen Gipfeltag. „So lange können wir hier in dieser Höhe aber nicht warten“, so Ralf, „wir versuchen es am Mittwoch, dem 1. Juni.“
Auch das bedeutet für die drei Bergsteiger keinen weiteren „Ruhetag“ am Nordsattel. In gut 7000 Metern Höhe erholt sich der Körper nicht mehr. Jeder Tag zehrt an den Kräften. Sollte Charly Gabl seine Prognose am Sonntag nicht noch umwerfen, wollen Gerlinde, Ralf und Hiro am Montag auf der tibetischen Normalroute Richtung Gipfel aufbrechen. Zwei Biwaks sind eingeplant.
Proviant aufgestockt
Ihren eigentlich nur auf fünf Tage ausgelegten Proviant haben die Bergsteiger inzwischen aufgestockt. Hiro traf am Nordsattel einen Sherpa, den er aus alten Zeiten kannte. Der versorgte ihn mit weiteren Lebensmitteln und Gas. Der geänderte Terminplan für den Gipfelversuch verlängert auch unseren Aufenthalt im vorgeschobenen Basislager. Sitaram, unser Koch, hat sich auf den Weg hinunter ins chinesische Basislager gemacht, um dem Verbindungsoffizier mitzuteilen, dass wir die Yaks für den Rücktransport erst einen Tag später als ursprünglich geplant benötigen.
Nichts wie raus
Gegen Mitternacht wachte ich von einem Mordsknall auf. Ich konnte das Geräusch erst nicht einordnen, dachte, es habe sich an einem der Berge ein Fels gelöst, der nun talwärts donnere. Nichts wie raus! Wenn du überhaupt eine Chance hast, dann außerhalb des Zelts.
Plötzlich taghell
Ich liebe meinen Daunenschlafsack, wenn mir kalt ist. Ich hasse ihn, wenn ich schnell hinausschlüpfen will. Natürlich hatte sich im Reißverschluss, den ich bis zum Anschlag, also bis zum Ohr zugezogen hatte, Stoff verklemmt. Ich saß in der Falle, aus der ich mich erst nach cirka 20 Sekunden befreien konnte.
Als ich das Zelt öffnete, wusste ich, dass es zu spät war. Der Fels-Kelch (oder was immer es auch gewesen sein mochte) war an mir vorübergegangen. Ich atmete einmal tief durch und schaute mich um. Nichts schien verändert. Plötzlich wurde es taghell. Am Himmel entlud sich ein Riesenblitz. Jetzt erst konnte ich den Knall von vorhin einordnen. Kein Steinschlag, kein Felssturz, ein simpler Donner hatte mich aus dem Schlaf gerissen.
Nichts für Knall-Traumatiker
In grauer Vorzeit meine ich in Physik gelernt zu haben, dass nicht nur Autos, sondern auch Zelte „Faradaysche Käfige“ sind, in denen einem Blitze nichts anhaben können. Also wieder hinein in die Plastikhütte!
Die nächste halbe Stunde war nichts für Knall-Traumatiker. Es blitzte und donnerte im Minutentakt, der Krach wurde durch die Felswände der Bergriesen ringsherum dutzendfach verstärkt. Dann ein kleiner Schnee-Schauer – und Ruhe. Nicht einmal eine kleine Windböe rüttelte mehr am Zelt. So unheimlich mir der Krach zuvor gewesen war, so seltsam erschien mir nun die Stille. Wieder entwand ich mich dem Daunenschlafsack, diesmal ohne mich mit dem Reißverschluss anzulegen.
Dünne Schneeschicht
Am Himmel leuchteten wieder die Sterne, als wäre nichts gewesen. Ich konnte doch nicht geträumt haben. Nein! Eine dünne Schneeschicht hatte sich über das Basislager gelegt. Ich dachte an Gerlinde, Ralf und Hiro in ihrem Leichtzelt in gut 7000 Metern Höhe auf dem Nordsattel am Everest. Donnerwetter, war das ein Gewitter!
Die Schneehühner haben Donner und Blitz übrigens unbeschadet überstanden. Heute morgen versammelten sie sich wieder neben meinem Zelt: „Hast Du den Trottel gesehen, wie er aus dem Zelt gestürzt ist?“ „Ich habe mich vor Lachen geschüttelt… Komm, wir wecken ihn, zwo, drei“
War das ein Sturm!
Eigentlich haben wir uns für zwölf Uhr verabredet. Also steige ich vom Basislager hinauf zum Aussichtspunkt, um mit Ralf per Satellitentelefon Kontakt aufzunehmen. Der Termin verstreicht, ohne das es klingelt. Ich wähle Ralfs Nummer. Eine männliche Automatenstimme empfiehlt mir, es später noch einmal zu versuchen.
Telefonieren unmöglich
Ich blicke Richtung Mount Everest. Die Wolken jagen von Westen nach Osten. Bei diesem Sturm wollen die drei den Chang La, den Nordsattel, erklettern. Ich stelle mir vor wie sie sich die Eisspalte hochzwängen. Telefonieren unmöglich! Ich kehre zum Basislager zurück. Hier bläst es auch ordentlich, doch sicher kein Vergleich mit dem Windkanal dort oben.
Anderthalb Stunden später klingelt das Telefon. Ralf meldet sich vom Nordsattel: „War das ein Sturm! Geschwindigkeiten um die 80 Stundenkilometer. Der Wind hat uns fast von den Beinen geholt.“ Die Gletscherspalten im unteren und das Blankeis im oberen Bereich der Route seien nicht ohne gewesen, aber am meisten hätten sie mit dem Wind gekämpft.
„Das ist der Abschaum!“
Ralf ist tief beeindruckt von dem Anblick, der sich ihm am Nordsattel in 7066 Metern Höhe bietet: „So etwas habe ich noch nie gesehen. Zelt an Zelt, nur dreißig Zentimeter dazwischen.“ Überall lägen menschliche Extremente herum, da sei es schwer, einen halbwegs sauberen, windgeschützten Platz für ihr Minizelt zu finden. „Das ist der Abschaum!“ Ich frage ob noch viele Bergsteiger auf den Gipfel wollten. Ralf antwortet, es kämen noch einige vom Basislager auf dem östlichen Rongbuk-Gletscher herauf. Wir verabschieden uns.
Wir müssen warten
Drei Stunden später der nächste Anruf. Ralf hat gerade mit Charly Gabl telefoniert, dem Wetterfrosch aus Innsbruck. Er hat die Prognose für den vermeintlichen Gipfeltag 30. Mai revidiert. Der Wind werde stärker blasen. Zu stark für einen Aufstieg ohne zusätzlichen Sauerstoff. Erst am 1. Juni werde der Wind nachlassen.
Nun wollen Gerlinde, Ralf und Hiro in ihrem Zelt am Nordsattel den nächsten Wetterbericht Gabls am Samsatg abwarten. Und wir dachten, die Zeit des Wartens sei vorbei.
Nordwand: Risiko zu hoch
Aus der Traum von der Nordwand des Mount Everest. Schweren Herzens haben Gerlinde, Ralf und Hiro ihren Plan begraben, den höchsten Berg der Erde über die so genannte „Supercouloir-Route“ zu besteigen.
Noch einmal hatten die drei Bergsteiger am Wandfuß in gut 6000 Metern Höhe die Bedingungen studiert und diskutiert. Ihr Fazit: Das Risiko ist zu groß. „Es wäre Harakiri, in die Wand einzusteigen“, sagte Ralf am Satellitentelefon. Wegen der derzeit hohen Temperaturen müssten sie im unteren Teil ständig mit Lawinen und Steinschlag rechnen.
Schicksal nicht herausfordern
Ausschlaggebend für die Entscheidung seien allerdings die unklaren Windverhältnisse gewesen. Wenn der Wind am geplanten Gipfeltag, dem 30. Mai, am Westgrat in weit über 8000 Metern Höhe nur etwas schneller blase als mit den vorhergesagten 40 Stundenkilometern, sei die Besteigung ohne zusätzlichen Sauerstoff unmöglich.
Genausowenig könnten sie dann bei den derzeitigen Verhältnissen einfach umkehren. In diesem Falle steckten sie in der Falle – zumal für den nächsten Tag wieder weit höhere Windgeschwindigkeiten zu erwarten seien. „Wir hatten im vergangenen Jahr am Achttausender Annapurna Riesenglück“, so Ralf, „wir wollen das Schicksal nicht ein weiteres Mal herausfordern.“
Neue Route
Gerlinde, Ralf und Hiro wollen nun versuchen, vom Fuß der Nordwand seitlich über eine steile Eiswand zum Chang La, dem Everest-Nordsattel, aufzusteigen. Die Route wurde 1938 von einer englischen Expedition erstbegangen. „Im unteren Teil“, sagt Ralf, „ist das Gelände sehr spaltenreich. Darüber warten 500 Höhenmeter blankes Eis.“
Sollte es den drei Bergsteigern gelingen, diese Klippe zu überwinden, würden sie vom 7100 Meter hohen Nordsattel aus versuchen, über die tibetische Normalroute den Gipfel zu erreichen – sicherlich nicht ihre Traumvariante, doch ohne Atemmasken und bei den unbeständigen Wetterverhältnissen aller Ehren wert.