Das Schneehuhn-Massaker
Rückblick: Und wieder endet ein Tag im Basislager.
20 Uhr: Wir gehen mit den Schneehühnern schlafen, also kurz nach den letzten Sonnenstrahlen. Ein vernünftiges Gespräch im Mannschaftszelt ist wegen der frostigen Temperaturen und des permanenten Gähnens der Expeditionsteilnehmer ohnehin nicht mehr möglich.
20.15 Uhr: Ich schlüpfe erst ins Zelt, dann in den Daunenschlafsack. Ich trage (von unten beginnend) Skisocken, eine kurze und eine lange Unterhose, Unterhemd, T-Shirt, Pullover und Pudelmütze. Eine 1,5 Liter-Trinkflasche mit heißem Wasser wandert ans untere Ende des Schlafsacks, zwecks Wärmung des dicken Zehs.
20.20 Uhr: Ich schließe erst das rechte, dann das linke Auge.
23.30 Uhr: Ich wache auf. Die Trinkflasche ist noch warm, aber ich empfinde sie als Fremdkörper. Raus damit! Das Thermometer im Zelt zeigt minus acht Grad. Die Blase drückt. Ich verschaffe ihr draußen Erleichterung, bewundere den hellen Mond, den tollen Sternenhimmel und wundere mich nicht, dass der Everest immer noch da steht. Trotz langer Unterhose ist es doch recht kühl, also zurück in den Schlafsack.
2.30 Uhr: Ich schrecke auf, der Puls rast. Meine Pumpe zeigt mir den Vogel: Musst Du Depp eigentlich auf 5500 Metern schlafen, also halb im Himmel? Hast ja recht, denke ich. Der Puls normalisiert sich, ich schlafe wieder ein.
5.30 Uhr: Es wird hell. Prompt erwachen die Schneehühner und balzen in Kirmes-Lautstärke. Beinahe werfe ich meine pazifistischen Grundsätze über Bord, bin dann aber doch zu müde und verkrieche mich erneut im Schlafsack.
7.30 Uhr: „Dai, morning tea!“ Unser Koch Sitaram erlöst mich vom Alptraum eines Schneehuhn-Massakers.
7.45 Uhr: Die ersten Sonnenstrahlen streicheln das Zelt. Im Nu schießt das Thermometer auf plus 15 Grad. Zeit aufzustehen. Und wieder beginnt ein Tag im Basislager.
Mangelware Wasser
Über den schleichenden Verfall der Körperpflege ist an dieser Stelle schon berichtet worden. Doch wir mutieren nicht freiwillig zu Yetis oder sind plötzlich zu überzeugten Erdferkeln geworden. Der Grund ist ganz einfach: Wasser ist Mangelware. Das Basislager liegt in einer Senke am Rande des zentralen Rongbuk-Gletschers. Dort gibt es keine Quelle.
Vorräte aufgebraucht
Zunächst ließen sich zwischen den Felsbrocken noch einige Schneeflecken finden, die in geschmolzenem Zustand eher nach dünner Milch als nach Wasser aussahen, zum Spülen und Waschen aber taugten. Inzwischen sind diese Vorräte weitgehend aufgebraucht oder weggetaut.
Kanister schleppen
Selbst Yetis und Erdferkel benötigen Trinkwasser, also auch wir. Zwei Mal am Tag steigt unser Koch Sitaram eine steile Moräne hinab, um aus einem kleinen Gletscherteich Wasser zu schöpfen und den Kanister dann wieder hinaufzuschleppen. 20 Minuten hinunter, 40 Minuten herauf, eine Tortur in 5500 Metern Höhe.
Ich habe ihn begleitet, die Hälfte Wasser geschleppt, ein Viertel länger an Zeit gebraucht und mich doppelt so alt gefühlt wie er. Danke Sitaram! Ohne Helfer wie dich wären die Yetis und Erdferkel in den Basislagern dieser Welt schon längst eingegangen.
Chance: 50 zu 50
Der erste Eindruck ist meist der richtige. Wenn es danach ginge, stünden die Chancen für Gerlinde, Ralf und Hiro, die „Supercouloir“-Route durch die Nordwand des Mount Everest zu durchsteigen, etwa 50 zu 50.
„Schwer, aber machbar“
Gestern Nachmittag kehrten die drei von ihrer Erkundungstour zum Wandfuß zurück. Entgegen ihrer ursprünglichen Planung waren sie nicht in den unteren Teil der Route hineingeklettert, sondern hatten sich damit begnügt, die Bedingungen im Japaner-Couloir und im Hornbein-Couloir von ihrem Zelt in 6000 Meter Höhe aus mit dem Fernglas zu studieren.
Gerlindes Einschätzung: „Schwer, aber machbar.“ Ralf ist weniger optimistisch. Er hatte bei der Erkundungstour mit Magenproblemen zu kämpfen und fühlte sich einfach nicht fit. „In dem Zustand habe ich keine Chance, durch die Nordwand auf den Everest zu kommen“, sagt der 43-Jährige, der auf die Erfahrungen von über 40 Expeditionen allein im Himalaya und Karakorum zurückblickt. Und Hiro? Der Japaner wiegt seinen Kopf von rechts nach links, und meint dann: „Ich fühle mich auch noch ziemlich müde.“
Viel schlafen, essen und trinken
Dem Trio steckt die Besteigung des Achttausenders Shishapangma in den Knochen. Eine solche Belastung schüttelt man nicht ab wie einen Jogginglauf am Rhein, schon gar nicht in dieser Höhe. Jetzt heißt es für Gerlinde, Ralf und Hiro: Kräfte tanken, viel schlafen, essen und trinken. Die Zeit drängt nicht. Noch scheint der Bergriese die Liliputaner an seinen Flanken ohnehin wegpusten zu wollen. Heute morgen konnte man den Gipfel des Mount Everest vom Basislager aus nicht einmal sehen.
Wo ist denn die Toilette?
Ich gehöre zu den Menschen, für die das eigene „stille Örtchen“ ein Stück Zuhause bedeutet und die sich daher auf Fernreisen schwer tun. Die Möglichkeit einzuhalten ist zeitlich begrenzt, man sammelt also zwangsläufig Erfahrungen.
Betonierte Toilettenhäuschen
Ich will Sie nicht mit der ganzen Palette an möglichen und unmöglichen Toiletten meiner Reise quälen, sondern beginne erst im chinesischen Everest-Basislager, 5200 Meter hoch gelegen, mit Jeeps erreichbar. Dort haben die Chinesen, wie es so ihre Art ist, ein Toilettenhäuschen in die Landschaft betoniert. Darin, fein säuberlich auf Nabelhöhe (!) mit Betonblende abgetrennt, zwei Kammern mit jeweils einem Loch in der Mitte und einem Stalagmit menschlicher Exkremente darunter. Da muss man schon sehr müssen, um nicht auf der Stelle die Flucht zu ergreifen.
Klopapier und Schlimmeres
Die Alternative ist verlockend, wenn auch im Gebirge oft recht kalt. Während der Wanderung lässt man die anderen vorgehen, hockt sich hinter einen größeren Stein, legt anschließend einen kleineren übers Geschäft und fertig.
In einem Basislager wie unserem, in dem 13 Personen aus zwei Expeditionen mehrere Wochen lang zusammenleben, wäre diese Variante allerdings auch schnell zum Scheitern verurteilt, da die Zahl der größeren Steine endlich ist und niemand ständig über Klopapier und Schlimmeres stolpern möchte.
Tolle Erfindung: Das Toilettenzelt
Und so ist irgendjemand auf die geniale Erfindung des Toilettenzeltes gekommen. Eine kleine Grube ausheben, das mannshohe Zelt darüber und schon hat man ein in Maßen intimes, zuweilen zugiges, meist aber stilles Örtchen. Und wenn die Grube voll ist, wird sie gedeckelt und das Zelt versetzt.
Am Berg gibt es solchen Komfort nicht. Dort hilft nur die Pinkelflasche oder der Weg nach draußen. Einige Bergsteiger sind dabei schon abgestürzt. Also genießen Sie Ihr „stilles Örtchen“ daheim!
Sitaram der Gourmet-Chef
„Dai!“ Der vielleicht wichtigste Ruf im Basislager. „Dai“ ist Nepali und bedeutet älterer Bruder. Wenn Sitaram Rai mich so ruft, weiß ich, dass der Tisch im Mannschaftszelt gedeckt ist. Sitaram ist der Koch und damit so etwas wie die Seele unserer Expedition.
Gourmet-Sterne verdient
Drei Mal täglich zaubert der 28-Jährige aus Nepal köstliche Speisen auf den Tisch. Ständig versorgt er uns mit heißem Tee und Wasser für Kaffee. Wenn es so etwas wie Gourmet-Sterne für Expeditionsköche gäbe, Sitaram hätte sie verdient. Zuletzt präsentierte er uns in einzelnen Pfännchen Rindersteaks, medium gebraten, mit Pommes Frites, Nudeln und Blumenkohl. Wie er das Fleisch von Kathmandu aus hinauf ins Basislager auf 5500 Meter Höhe gerettet hat, ist mir schleierhaft. Es schmeckte jedenfalls köstlich und blieb ohne verdauungs-technische Nachwirkungen.
Eine Gasflamme genügt
An einem anderen Tag überraschte er uns mit einem Kuchen, den er in einer Metallform im Kochtopf gebacken hatte. Sitaram verfügt in seinem Küchenzelt über zwei Gasflammen, doch eigentlich, so der Koch, benötige er nur eine.
Sitaram ist die soziale Leiter in Nepal ein Stück hinaufgestiegen. Mit 16 Jahren begann er als Träger für Trekkinggruppen, dann wurde er Küchengehilfe, mit 21 schließlich verantwortlicher Koch. Unsere Expedition zum Mount Everest ist seine siebte zu einem Achttausender. Kurios: Auch seine beiden Brüder bekochen Bergsteiger und Trekkingtouristen.
Ersatzfamilie auf dem Berg
Mit der dünnen Luft hat Sitaram übrigens keine Probleme. Vielleicht liegt es daran, dass er aus der Region um den Achttausender Makalu stammt, auch wenn er seit 15 Jahren nicht mehr dort gewesen ist. Mehrere Monate im Jahr muss Sitaram seine Frau und die zehn, sechs und zwei Jahre alten Töchter in Kathmandu zurücklassen. Schicksal eines Expeditionskochs. Statt seiner eigenen hat er dann eine Ersatzfamilie um sich: „dais“ und „bais“, ältere und jüngere Brüder, oder wie im Fall Gerlindes auch einmal eine „didi“, eine ältere Schwester.