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Chronik eines gescheiterten Gipfelversuchs


23.30 Uhr Ich wache auf. Der erste tiefe Schlaf liegt hinter mir. Draußen schneit es heftig. Mein erster Impuls: die Kapuze meines Daunenschlafsacks enger zuziehen und weiterschlafen! Der zweite Impuls: Schneefeste Kleidung anziehen und nachsehen, ob das Gemeinschaftszelt den Schneemassen standgehalten hat!
Fünf Minuten später stehe ich, mit der Schneeschaufel in der Hand, vor dem großen Kuppelzelt. Es biegt sich bereits bedenklich. Gerade als ich beginne, den Schnee von der Zeltplane abzuschütteln, knirscht das Gestänge und sackt nach innen zusammen. Ich wecke Sitaram und die drei Küchenhelfer. Wir kriechen in die Zeltruine.
Nach kurzer Beratung sind wir uns einig: Hier hilft nur der chirurgische Schnitt. Mit einem Küchenmesser ritzt Sitaram die Außenhaut des Zeltes auf, dort wo vorher der höchste Punkt des Zeltes war. Der Schnee ergießt sich ins Innere. Mit großen Schüsseln transportieren wir ihn nach draußen. Als die Zelthülle schneefrei ist, lässt sie sich wieder aufrichten. Zurück bleibt nur der Schnitt am Dach. Die Küchenhelfer erklären sich bereit, den Rest der Nacht im Gemeinschaftszelt zu verbringen und regelmäßig den Schnee abzuklopfen. Zuvor aber graben wir noch die Zelte der Expeditionsmitglieder aus. Wie es ihnen wohl oben am Berg geht?

4.00 Uhr Vereinbarte Funkzeit. Richard meldet sich aus Lager eins. „Ich habe aus dem Zelt geschaut. 40 Zentimeter Neuschnee. Da können wir doch unmöglich nach Lager zwei aufsteigen.“ Von dort schaltet sich Expeditionsleiter Ralf zu. „Hier hat es nicht ganz so viel geschneit. Ich kann sogar den Mond sehen. Vielleicht steigt ihr einfach mal ein Stück auf und schaut, wie die Verhältnisse sind.“ Ralf will mit Hiro um fünf Uhr aufbrechen, um Fixseile hinauf nach Lager drei zu legen. Richard, Rolf und Marc vereinbaren, gegen 5.45 Uhr aufzubrechen, um sich im Hellen ein Bild davon zu machen, wie lawinengefährdet die lange Schneeflanke hinauf nach Lager zwei ist.

7.00 Uhr Erneuter Funkkontakt. „Wir drehen um“, sagt Ralf. „Hier hat es doch erheblich mehr geschneit, als wir gedacht haben. Hiro und ich sind bis zu den Knien eingesunken. Außerdem ist die Sicht schlecht. Das macht keinen Sinn.“
Peter sagt, dass die Gruppe auf dem Weg hinauf nach Lager zwei gut vorankomme. Der Neuschnee in der Spur halte sich in Grenzen.


8.00 Uhr Peter meldet sich wieder per Walkie-Talkie: „Die Gruppe hat sich entschieden, weiter nach Lager zwei aufzusteigen.“ Ralf ist skeptisch: „Ich bin eher dafür, dass Ihr umdreht.“ Er gibt zu bedenken, dass es inzwischen heftig schneie. „Ich schätze, ihr braucht noch mindestens sieben Stunden bis Lager zwei. Ihr würdet völlig durchnässt hier ankommen. Und morgen dann der anstrengende Aufstieg nach Lager drei!“ Ralf macht eine Pause, dann: „Ich lege mein Veto ein. Ich bin für Absteigen.“ Peter akzeptiert die Entscheidung des Expeditionsleiters: „Dafür bist du doch da. Wenn du sagst, es macht keinen Sinn, dann ist es für uns alle sinnlos.“

9.00 Uhr Nächster Funkkontakt. Peter aus Lager eins: „Wir packen zusammen und steigen dann ins Basislager ab.“ Ralf und Hiro wollen dagegen in Lager zwei bleiben. „Es hat zu stürmen begonnen“, sagt Ralf. „Ich hoffe, dass der Neuschnee weggeblasen wird und wir dann morgen die Fixseile nach Lager drei hinauf legen können.“

11.00 Uhr Die Bergsteiger treffen wohlbehalten, aber enttäuscht im Basislager ein. „Ich habe mich richtig heiß auf diese Tage gemacht“, klagt Richard. „Der Wetterbericht verspricht relativ gute Verhältnisse, und wir versaufen da oben im Schnee. Das kotzt mich an.“
Jürgen hat sich nach dem Umdrehen sogar Gedanken über den Sinn des gesamten Unternehmens Manaslu gemacht: „Was hätte ich mit der ganzen Zeit anfangen können, die ich hier investiert habe? Glücklicherweise haben wir noch Zeit und ich hoffe auf einen zweiten Versuch. Wir haben noch eine Chance an diesem Berg.“
Marc sagt während des Mittagessens wenig. Dann aber platzt es aus ihm heraus: „ Ich wollte unbedingt da hoch. Wenn es nach mir ginge, würde ich jetzt zusammenpacken und nach Hause fahren. Aber bis heute Abend hat sich diese Stimmung sicher wieder gelegt.“
Zum Essen trinken übrigens fast alle Bergsteiger eine Dose Bier und ziehen sich anschließend zurück – zum Frustschlaf, während es draußen weiter schneit.

Datum

Samstag 12.05.2007 | 09:50

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