Last degree
Immer schön sauber bei der Wahrheit bleiben. Ja, wir machen uns auf den Weg zum Nordpol. Nein, wir haben im Erfolgsfall den nördlichsten Punkt nicht zu Fuß erreicht. Dafür müssten wir nämlich, so merkt der Schweizer Expeditionsleiter Thomas Ulrich mit Recht an, „irgendwo an Land starten und am Nordpol ankommen. Alles andere wäre wie am Mount Everest die Hälfte mit dem Hubschrauber hochfliegen und den Rest noch zu Fuß gehen“.
Kein Sonntagsspaziergang
In der Eiswüste
Wir aber werden nicht von Ellesmere Island in Kanada, von Grönland oder Sibirien aus starten, sondern exakt vom 89. Breitengrad aus. „Last degree“-Expeditionen nennt man solche Unternehmungen, die es auch ambitionierten Hobbyabenteurern mit kleinem Zeitbudget ermöglichen, den Nordpol zu erreichen und trotzdem eine anspruchsvolle sportliche Leistung erbracht zu haben. Wir lassen uns schließlich nicht, wie der Scheich aus Dubai, mit dem Helikopter direkt am Pol absetzen, um dort ein Glas Champagner zu schlürfen. „Es ist kein Sonntagsspaziergang“, stellt Thomas Ulrich klar. Wir werden voraussichtlich anderthalb Wochen lang jeden Tag rund neun Stunden lang übers Eis marschieren und dabei unsere Materialschlitten mit einem Gewicht von bis zu 40 Kilogramm hinter uns herziehen, und das bei Temperaturen bis minus 35 Grad Celsius.
Borneo auf Eis
Das Expeditionsteam trifft sich am 2. April auf der von Norwegen verwalteten Insel Spitzbergen. Von dort aus fliegen wir mit einer Antonow 74, einem russischen Flugzeug, das für kurze Landebahnen geeignet ist, nach Borneo weiter. Was nach Sonne und Meer klingt, ist in Wahrheit ein vergängliches „Paradies“ auf dem Eis. Alljährlich im April entsteht auf einer großen, stabilen Eisscholle am 89. Breitengrad eine russische Nordpol-Basis mit eigener Landepiste. Ende des Monats, wenn das Eis zu schmelzen beginnt, verschwindet auch Borneo wieder. Die Station wird geräumt.
Wasser- und Eisbarrieren
Hinter Borneo ist es aus mit der Bequemlichkeit. Wir schnallen die Skier und die Zuggurte für die Schlitten an und los geht’s. Bis zum Pol fehlen noch 120 Kilometer – etwa, denn wir bewegen uns auf Eis, das auf dem 4000 Meter tiefen Polarmeer treibt. Je nach Drift kann es also durchaus passieren, dass wir den einen oder anderen Kilometer, den wir zuvor marschiert sind, während des Schlafs wieder zurücktreiben. Wir können auf offene Rinnen stoßen, die umgangen, oder auf Presseis-Rücken, die überstiegen werden müssen. Gerade das mache den Reiz aus, sagt Expeditionsleiter Ulrich. „Im Gegensatz zur Antarktis, wo man fast immer das Gleiche sieht, verändert sich die Arktis täglich.“
Gefühlt höher als auf dem Everest
Zelten am Nordpol
Doch irgendwann erreichen wir hoffentlich den nördlichsten Punkt. Das GPS-Gerät zeigt 90 Grad Nord. „Das ist ein mystisches Gefühl“, so Ulrich, „weil man weiß, dass sich dort alle Längengrade berühren und man in wenigen Schritten 24 Stunden abmarschieren kann.“ Zeitzonen-Hopping also. Und außerdem steht ja man oben auf der Erde, gewissermaßen. „Man hat fast das Gefühl, dass man höher ist als auf dem Mount Everest.“
Am Nordpol wollen wir mindestens einmal übernachten, ehe uns ein russischer Hubschrauber abholt und zurück nach Borneo bringt. Von dort geht es wieder per Flugzeug nach Spitzbergen.