Wie Comici
Mit den Fußspitzen stehe ich sicher auf einem kleinen Felsvorsprung, die Fersen hängen in der Luft. „Du musst immer erst nach unten schauen“, hat mir Bergführer Albin Markart aus Wolkenstein in Südtirol eingeschärft. „Wichtig ist, dass du einen sicheren Stand hast. Dann kannst du dich auf den nächsten Schritt konzentrieren.“ Der Dolomit-Fels fühlt sich unter meinen Händen angenehm warm an. Die Wand liegt in der Sonne. Hier ist schon Emilio Comici geklettert.
Dolomiten-Kletterei
Sechster Grad
Ich schließe kurz die Augen, versuche mir vorzustellen, wie der legendäre italienische Kletterer in den 1920er und 30er Jahren elegant die Route heraufgeturnt ist. Ein müdes Lächeln dürfte sie Comici abgerungen haben. Immerhin meisterte er 1933 mit den Brüdern Giovanni und Angelo Dimais als Erster die Nordwand der Großen Zinne in den Sextener Dolomiten. Sechster Schwierigkeitsgrad, damals das Maß aller Dinge. Jeder ernsthafte Kletterer kennt die „Comici“. Die nach dem Erstbesteiger benannte Route ist ein echter Klassiker.
Das Stahlseil habe ich nicht angefasst, Ehrenwort!
Aufgeben?
Genug innegehalten. Ich versuche, den nächsten Tritt, den nächsten Griff auszumachen. Vielleicht da links oben, die kleine Felsnase. Nein, zu schmal, ich rutsche ab. Meine Augen wandern nach rechts. Nichts. Bin ich am Ende meiner Möglichkeiten angelangt? „Die meisten machen den Fehler, zu viel aus den Armen heraus zu klettern“, hat mir Albin vor dem Einstieg erklärt. Ich hätte nachfragen sollen: „Aber was ist, wenn die Füße keinen Halt mehr finden?“ So kurz vor dem Ende der Route will ich nicht aufgeben. Was kann schon passieren? Albin sichert mich, ich würde ins Seil fallen.
Auf den Spuren der Huberbuam
Ich riskiere einen Blick nach unten. Vor Jahren, zu Zeiten meiner Höhenangst, als mein Puls bereits auf einer Hängebrücke auf Rekordhöhen stieg, hätten mir in diesem Moment die Knie zu zittern begonnen. 15, vielleicht 20 Höhenmeter trennen Albin und mich, Haushöhe. Ich denke an den Werbespot der Huberbuam. Die turnen doch auch nur aus den Armen heraus ein Haus hinauf. Also los. Ich suche ich mir einen schönen Griff, atme tief durch und stoße mich unten ab. Geschafft. Die Schlüsselstelle liegt hinter mir, ich erreiche den letzten Haken. „Lass dich nach hinten ins Seil fallen“, ruft mir Albin von unten zu. Das fällt mir deutlich schwerer als die Kletterei zuvor. Eine Minute später stehe ich am Fuße des Klettergartens. Die anderen klatschen. Ich gestehe, ich bin ein bisschen stolz. Bis zu dem Augenblick, als Albin sagt: „Wir machen hier auch Schnupperkurse für Kinder.“ Meine Euphorie platzt wie eine Seifenblase.
Hallo?!
Beiläufig frage ich Albin noch, wie dieser Klettergarten heiße. „Comici“, antwortet der Bergführer. Zu Hause versuche ich, im Internet ein Bild der Wand zu finden, an der ich geklettert bin. Schnell werde ich fündig und traue meinen Augen nicht. Da steht doch tatsächlich, dass eben dort, an diesem Felsen, der große Emilio Comici 1940 zu Tode gestürzt ist. Beim Üben, weil seine Reepschnur verrottet war. Hallo?! Das hätte mir Albin schon noch erzählen dürfen. War wohl doch mehr als Kinderkram.
Wenn Albin sichert, fühlst du dich sicher
P.S. Nicht vorenthalten will ich euch die Worte eines Kletterers aus dem Siegerland nahe Köln, der sich mit seinem Freund im selben Klettergarten für größere Dolomiten-Touren warm machte. Hört mal rein!