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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Gerlinde am Ziel: Alle 14 Achttausender

Eigentlich hätten wir uns gar nicht weit vom K 2 kennenlernen sollen. Ursprünglich wollte ich bei meiner Reportagereise im Juli 2004 zum zweithöchsten Berg der Erde auch einen Abstecher zum Basislager am nahe gelegenen Achttausender Gasherbrum I machen, um Gerlinde und Ralf zu besuchen. Ralf kannte ich bereits seit ein paar Jahren, seine (damals noch) Lebensgefährtin nicht. Weil mein Zeitplan während des Trekkings zu eng gestrickt war, musste ich den Plan jedoch fallen lassen. So begegneten wir uns erstmals im Herbst desselben Jahres beim Kölner Alpintag in Leverkusen – was wie ein doppeltes Paradoxon klingt (Köln in Leverkusen, Alpintag im Flachland), aber eine außerordentlich gut besuchte Veranstaltung der Kölner Alpenvereins-Sektion war. Gerlinde hielt damals einen Vortrag, Ralf kümmerte sich um die Technik. Ich interviewte die beiden. Die Österreicherin war mir auf Anhieb sympathisch. Sie wirkte natürlich, herzlich und bescheiden. Keine Spur von Starallüren, zu denen auch manche Spitzenbergsteiger neigen.

Auf einer Wellenlänge

Gerlinde und Ralf

Im folgenden Jahr begleitete ich Gerlinde und Ralf zur Nordwand des Mount Everest. Auch heute bin ich den beiden noch dankbar dafür, dass sie das Wagnis eingingen, mich mitzunehmen. Zwar kannten sie einige meiner journalistischen Arbeiten und wir hatten uns ein wenig beschnuppert. Aber wie ich mich in extremer Höhe, in der extremen Nähe eines Basislagers und in gegebenenfalls extremen Situationen verhalten würde, wussten sie nicht. Um es kurz zu machen, es funktionierte: Menschlich funkten wir auf einer Wellenlänge. Und ich fühlte mich von Gerlinde und Ralf sowie ihrem japanischen Freund Hirotaka Takeuchi von Beginn an als vollwertiges Teammitglied akzeptiert, obwohl ich „nur“ im Basislager auf etwa 5500 Metern blieb und über ihr Fortkommen am Berg berichtete.

Freundschaft geht über Gipfel

Ralf und Gerlinde bringen Hiro 2005 zurück ins Basislager

Gerlinde war 2005 prächtig in Form. Mit Ralf und Hiro hatte sie gerade den Achttausender Shishapangma über die schwere Südwand-Route bestiegen, und auch am Everest schien sie nichts stoppen zu können. Doch ganz selbstverständlich verzichtete Gerlinde auf einen Gipfelversuch, als sich Hiro auf über 7000 Metern ein Höhenhirnödem zuzog und nur knapp dem Tod von der Schippe sprang – nicht zuletzt dank Gerlinde als ausgebildeter Krankenschwester. „Es ist wichtiger, einen Freund zu retten, als den Mount Everest zu besteigen“, meinte sie nach ihrer Rückkehr ins Basislager. Es war nicht nur so dahergesagt.

Mensch geblieben

Auch 2007, als ich an einer von Ralf geführten kommerziellen Expedition zum Achttausender Manaslu teilnahm, begegnete ich Gerlinde. Auf dem Rückweg kam sie uns auf der „Annapurna-Runde“, einer der beliebtesten Trekkingrouten Nepals, entgegen. Sie hatte gerade am Dhaulagiri mit viel Glück eine Lawine überlebt, zwei spanische Bergsteiger waren ums Leben gekommen. Gerlinde wirkte mitgenommen. Andere Profi-Bergsteiger wären vielleicht leichtfertig darüber hinweggegangen. Gerlinde aber brauchte einfach Zeit und auch Ruhe jenseits des Medienrummels, um das tragische Geschehen zu verarbeiten. Sie machte keinen Hehl daraus, blieb einfach Mensch.

In den Bergen glücklich

Den „Wettlauf“ der Frauen um die Achttausender-Krone hat sie nicht gewollt. Der wurde herbeigeredet und –geschrieben. Als wir 2005 vom Mount Everest zurückkehrten, interessierte sich in Deutschland kaum jemand für Gerlinde. Erst als Ende des Jahres eine Geschichte im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ über den vermeintlichen Wettlauf erschien, brachen die Dämme. Gerlinde besuchte damals mit Ralf einen Weihnachtsmarkt in Österreich, als erstmals das Handy klingelte – und dann immer wieder. Professionell und höflich, wie sie ist, beantwortete sie jede Anfrage. Aber eigentlich war ihr der ganze Trubel zu viel. Umso glücklicher wirkte Gerlinde eigentlich immer, wenn ich sie vor der Abreise zu einer neuen Expedition traf. In den Bergen findet sie ihre Ruhe, hier kann Gerlinde sie selbst sein: Bergsteigen ist nicht nur ihr Beruf, sondern ihre Berufung. In den Bergen genießt die 40-Jährige das Leben in vollen Zügen, vor allem wenn sie ihre Erlebnisse mit ihrem Mann Ralf teilen kann.

Für mich die Beste

Immer offen und nett

Dass Gerlinde jetzt alle 14 Achttausender bestiegen hat, ist eine außergewöhnliche Leistung. Sie ist die erste Frau, die dabei komplett auf Flaschensauerstoff verzichtete. Stets war Gerlinde außerdem in kleinen Teams und ohne Hochträger unterwegs. Einige der Bergriesen bestieg sie zudem nicht über die Normalwege, sondern auf technisch schwierigen Routen. All das unterscheidet sie von der Südkoreanerin Oh Eun Sun und der Spanierin Edurne Pasaban, die im Frühjahr 2010 vor Gerlinde ihre Achttausender-Sammlungen vollendeten. Für mich ist Gerlinde deshalb die beste Höhenbergsteigerin der Welt – auch wenn ich möglicherweise befangen bin, weil ich sie nicht nur als Sportlerin, sondern auch als Mensch besonders schätzen gelernt habe.

Gerlindes Achttausender-Chronik:

1998 April/Mai – Cho Oyu/ Tibet (8201 Meter)
2001 April/Mai – Makalu/ Nepal (8463 Meter)
2002 April/Mai – Manaslu/ Nepal (8163 Meter)
2003 Juni – Nanga Parbat/ Pakistan (8125 Meter)
2004 Mai – Annapurna/ Nepal (8091 Meter)
2004 Juli – Gasherbrum I/ Pakistan (8068 Meter)
2005 Mai – Shishapangma/ Tibet (8013 Meter)
2005 Juni/Juli – Gasherbrum II/ Pakistan (8035 Meter)
2006 April/Mai – Kangchendzönga/ Nepal (8595 Meter)
2007 Juli/August – Broad Peak/ Pakistan (8047 Meter)
2008 Mai – Dhaulagiri/ Nepal (8167 Meter)
2009 Mai – Lhotse/ Nepal (8516 Meter)
2010 April/Mai – Everest/ Tibet (8850 Meter)
2011 Juli/August – K 2/ China (8611 Meter)

Datum

23. August 2011 | 15:08

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