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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Gelesen: Psychovertikal

Klappern gehört zum Geschäft. Das gilt auch für Profibergsteiger. Sie wollen wahrgenommen werden. Und so gibt es jede Menge Bergbücher, in denen Kletterer ihre „Heldentaten“ (oder was sie dafür halten) verkaufen und ihr Seelenleben ausbreiten. Unter diesen Werken finden sich nach meinem Geschmack wenige sehr gute, einige gute, viele überflüssige und schlechte. In meinem Blog werde ich von Zeit zu Zeit neue Bergbücher kurz vorstellen. Erwartet keine ausführliche Rezension, ich will euch einfach den einen oder anderen Tipp geben. Die aus meiner Sicht überflüssigen Bücher lasse ich weg, es reicht, wenn ich mich gelangweilt habe.


Trostlose Kindheit

Gut unterhalten hat mich Andy Kirkpatricks preisgekröntes Buch „Psychovertikal“. Der Engländer hat nämlich deutlich mehr zu erzählen als nur Details seiner Kletterrouten. Der 39-Jährige wuchs in einem Armenviertel der Hafenstadt Hull im Osten der Insel auf. Der Vater ließ die Familie im Stich, die Mutter schlug sich mit ihren beiden Kindern durch. Andy entdeckte seine Leidenschaft fürs Klettern, jede Tour wurde zur Flucht aus der trostlosen Realität. Heute zählt Kirkpatrick zu den bekanntesten Bergsteigern Englands.
Das Gerüst seines Buchs bildet der Bericht über die zwölf Tage dauernde Solo-Durchsteigung der schwierigen Route „Reticent Wall“ (Schweigsame Wand) am Granitfelsen El Capitan im Yosemite-Valley in den USA. Seillänge für Seillänge, Kapitel für Kapitel klettern wir mit Kirkpatrick höher und gleichzeitig tiefer in sein Leben hinein. Kirkpatrick schreibt über seine Bergabenteuer, aber auch über den Zwiespalt, einerseits ein liebevoller, verantwortungsbewusster Ehemann und Vater sein zu wollen, andererseits aber immer wieder sein Leben in den Bergen zu riskieren.

Angstometer im Kopf

Dass der Engländer dieses Buch überhaupt selbst geschrieben hat, grenzt schon an ein kleines Wunder. Kirkpatrick ist Legastheniker, kämpft um jedes Wort, das er zu Papier bringt. Nicht umsonst bedankt er sich daher gleich auf den ersten Seiten bei Bill Gates für dessen Textprogramm mit Rechtschreib- und Grammatikprüfung. Das Ergebnis kann sich wirklich sehen, nein lesen lassen. Etwa wenn Andy über das „Angstometer“ im Kopf schreibt: „Jede schlechte Sicherung lässt den Zeiger in den roten Bereich rutschen. Wenn endlich eine gute Sicherung kommt, federt die Nadel zurück zum Nullpunkt. … Das Problem mit dem Angstometer ist jedoch, dass es eigentlich nichts anderes misst als die Selbsttäuschung.“
Als Seilpartner würde ich mir wahrscheinlich nach dieser Lektüre jemand anderen suchen. Als Kirkpatrick bei einer Tour im Mont-Blanc-Massiv bei einem Wettersturz eine Schneehöhle aushebt und dabei eine Gletscherspalte angräbt, buddelt er das Loch schnell zu. „Ich sagte zu Aaron, dass er auf dieser Seite der Höhe schlafen sollte, verschwieg aber den Grund. Er war ohnehin leichter als ich.“ Eines muss man Kirkpatrick lassen, ehrlich ist er. Wenigstens hinterher.

Datum

14. Mai 2010 | 15:34

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