Deutscher Arzt will Sherpa-Familien langfristig helfen
Der 18. April hat vieles verändert: am Mount Everest, im Leben der Familien der 16 Lawinenopfer – und auch für Matthias Baumann. Der 42 Jahre alte Unfallchirurg aus Esslingen war als Expeditionsarzt im Team der argentinischen Zwillingsbrüder Damian und Willie (Guillermo) Benegas und wollte eigentlich im zweiten Anlauf den Everest über die nepalesische Südseite besteigen. Sein erster Versuch war 2011 auf der tibetischen Nordseite auf 8600 Metern durch ein Missgeschick gescheitert: Als er am Second Step, der Schlüsselstelle der Normalroute, die Sauerstoffflasche wechseln wollte, stellte Matthias fest, dass sein Sherpa statt einer vollen einen leere Flasche eingepackt hatte.
Drei Jahre später stieg Baumann durch den Khumbu-Eisbruch, einen Tag vor dem Lawinenunglück. „Ich wusste, dass seit vier, fünf Jahren Lawinen von der Westschulter abgehen. Die Seracs hängen schon sehr bedrohlich da oben“, erzählt mir Matthias. Auch wenn der Spaß am Klettern schließlich die Oberhand gewonnen habe, sei der Respekt geblieben. „Ich habe immer nach oben zu den Seracs geschaut.“ Am Tag danach wurde der Khumbu-Eisbruch für 16 nepalesische Bergsteiger zur tödlichen Falle. Der deutsche Arzt kümmerte sich mit anderen Medizinern um die Verletzten, die ins Basislager gebracht wurden. Nach dem Ende der Expedition besuchte Matthias fast alle Familien der ums Leben gekommenen Nepalesen – und startete für sie eine Spendenaktion.
„Matthias, du warst zum Zeitpunkt des Unglücks im Basislager. Wie hast du die Lawine erlebt?
Ich lag morgens im Zelt und war schon wach. Dann gab es plötzlich dieses unglaublich laute Geräusch. Ich schaute heraus und sah noch den Schneestaub, der über dem ganzen Khumbu-Eisfall niederging. Ich stand schnell auf. Es herrschte eine gespenstische Ruhe im Basislager. Ich weckte unseren Expeditionsleiter (Damian Benegas) und sagte zu ihm: ‚Es ist eine große Lawine abgegangen. Zu dieser Zeit sind viele Bergsteiger unterwegs. Da muss etwas passiert sein!‘ Er stand sofort auf. Wir vereinbarten, dass ich unten bleibe, um Patienten zu empfangen. Er stieg dann Richtung Unfallstelle auf.
Matthias Baumann über die Lawine im Khumbu-Eisbruch
Wie gut hat die Rettungsaktion funktioniert?
Dafür, dass es nicht organisiert war, funktionierte es gut. Leute mit Erfahrung in der Rettung, wie eben Damian Benegas oder Michael Horst von „Alpine Ascents International“, stiegen auf. Die Sherpas, die schon oberhalb waren, kehrten um und kamen zur Unfallstelle. Sie führten die Leichtverletzten durch den Khumbu-Eisfall herunter. Ich habe unten die Ärzte zusammengetrommelt. Es war ein internationales Team. Zwei Ärzte sind ja permanent vor Ort stationiert, im Zelt der „Himalayan Rescue Association“.
Du hast als Arzt Erste Hilfe geleistet. Hast du nur als Mediziner funktioniert oder hat dich Ganze auch erschüttert?
Es hat mich sehr erschüttert. Wenn sich so ein Unglück in der Umgebung ereignet, in der man selbst als Sportler oder Bergsteiger unterwegs ist, ist das nicht mehr so leicht zu trennen wie in der Klinik. Aber natürlich funktioniert man erst einmal. Wir haben die Patienten ganz ordentlich versorgt, obwohl wir Ärzte uns alle nicht kannten.
Nach dem Ende der Expedition hast du noch viele Familien der bei der Lawine ums Leben gekommenen Sherpas besucht. Was hat dich dazu motiviert?
Ich stieg bewusst alleine vom Basislager ab, ich wollte das Ganze verarbeiten. Ich dachte, vielleicht kann ich eine Familie besuchen. Doch noch bevor ich die erste Familie erreichte, dachte ich mir: Nein, du musst alle besuchen! Es war einfach eine spontane Idee. Ich hatte auch noch nie ein Hilfsprojekt gestartet. Es war sehr traurig, sehr bewegend, aber irgendwo auch gut, dass ich helfen konnte. Ich war bei allen Familien der erste, der vorbei kam.
Wie viele Familien hast du besucht?
14 der 16 Familien. Zwei konnte ich nicht besuchen, weil sie im Solu (Gebiet unterhalb der Khumbu-Region) und damit zu weit entfernt wohnten. Das habe ich zeitlich nicht mehr geschafft.
Die Angehörigen waren doch sicher noch traumatisiert?
Sie waren sehr traumatisiert. Sie hatten gerade ihren toten Vater oder Ehemann verbrannt. In den meisten Häusern waren noch Mönche anwesend und haben Pujas (buddhistische Zeremonien) abgehalten, in sehr unterschiedlicher Form. Bei den weit abgelegenen Häusern waren es nur vier, fünf Mönche, in Kathmandu 150. Die Frauen wirkten auf mich im ersten Moment sehr stark, sie zeigten nicht sehr viele Emotionen. Aber am Ende, als ich eine kleine Spende überreichte und mich verabschiedete, weinten die meisten doch.
Matthias Baumann:Traumatisierte Familien der Lawinenopfer
Wie haben sie auf dich als Bergsteiger aus dem Westen, der sein Mitgefühl ausdrücken will, reagiert?
Es war keine Aggressivität und auch kein Vorwurf zu spüren. Die meisten waren sehr dankbar, dass jemand vorbei kam und zeigte, dass er an sie denkt. Sie wohnen alle sehr weit abgelegen. Ich hatte den Eindruck, dass sie ein bisschen enttäuscht waren, dass überhaupt niemand von diesen vielen, vielen Bergsteigern und Expeditionsleitern nach ihnen schaute.
Die Familien haben nicht nur einen geliebten Menschen, sondern auch ihren Ernährer verloren. Was bedeutet das konkret für sie? Wie geht es für sie weiter?
Das ist ein sehr schwieriger Weg. In den Sherpa-Familien sorgt der Mann für die Finanzen, die Frauen sind zu Hause und betreuen die Kinder. In Nepal ist es für eine Frau, die schon Kinder hat, schwierig oder sogar fast unmöglich, einen anderen Mann zu finden. In der Regel müssen die Angehörigen und Nachbarn helfen. In einer Familie, die ich besucht habe, besitzt die Frau einige Yaks und hat deshalb ein kleines Einkommen. Aber das ist nicht mit dem Gehalt eines Everest-Sherpas vergleichbar, der 5000 bis 6000 US-Dollar pro Saison bekommt.
Matthias Baumann:Schwieriger Weg für Sherpa-Familien
Viele der Sherpa-Familien sind kinderreich. Hatten die Kinder überhaupt schon realisiert, was passiert war?
Das hängt natürlich vom Alter ab. In Kathmandu habe ich eine Tochter eines Verunglückten getroffen, die schon 19 Jahre alt war. Sie hat die Tragödie natürlich voll wahrgenommen und fühlt sich jetzt in der Verantwortung, für die Mutter und die Großeltern zu sorgen. Ich habe eine andere Familie besucht, da war das Kind erst einen Monat alt. Der Vater hatte es nur einmal gesehen. Und in einer Familie nördlich von Thame (kleiner Ort im Khumbu-Gebiet), Richtung Nangpa La (Pass zwischen Nepal und Tibet), waren die Kinder zwischen vier und zwölf Jahre alt. Die zwölfjährige Tochter hat uns vier Stunden talabwärts aus Richtung Namche Bazaar (Hauptort des Khumbu) abgeholt und zu dem Haus geführt. Bei ihr hatte ich den Eindruck, dass sie noch nicht realisiert hat, was das Unglück für ihre Familie bedeutet.
Du hast eine Hilfsaktion für die Familien gestartet. Waren deine Besuche der Auslöser, dass du gesagt hast, ich kann jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, ich muss etwas tun?
Ja, das war die Motivation. Ich bin erst einmal bei den Familien vorbeigegangen, um erste Spenden abzugeben. Das größere Projekt hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht geplant. Aber je mehr Familien ich besuchte, desto größer wurde der Wunsch, das Ganze auszubauen, um auch langfristig helfen zu können.
Hast du das Gefühl, dass die Hilfe der Regierung nicht ausreicht?
Es sah ja erst so aus, als wollten die offiziellen Stellen nur 400 US-Dollar pro Familie geben. Da gab es Proteste. Ich denke, das Unglück hat international für so viel Aufsehen gesorgt, dass die nepalesische Regierung nachziehen muss. Ich hoffe vor allem, dass sie ein bisschen mehr für die Kinder machen wird.
Wie stellst du bei deinem Projekt sicher, dass das Geld auch wirklich bei den Familien ankommt?
Ich kenne seit 20 Jahren Pemba Sherpa, der für „Asian Trekking“ arbeitet und dort einer der Hauptverantwortlichen im Khumbu-Gebiet ist. Wir haben zusammen in Chamonix einen internationalen Bergführerkurs besucht. Seitdem haben wir Kontakt, ich habe ihn schon oft besucht. Ich kann ihm hundertprozentig vertrauen. Die Familien sollen mir aber auch bestätigen, was sie bekommen haben und wer das Geld überbracht hat.
Es ist viel diskutiert worden, ob es eine gute Idee war, die Saison am Everest zu beenden. Wie siehst du das, als jemand, der vor Ort war, als die Tragödie geschah und der auch die Familien der Opfer besucht hat?
Ich denke, es war richtig, die Saison zu beenden. Es war nachher viel zu viel Unruhe im Basislager. Natürlich haben 500 Bergsteiger 500 Träume. Aber diese Träume sind nicht vergleichbar mit dem, was den Familien passiert ist. Da muss man eindeutig seine persönlichen Träume zurückstellen. Ich denke, es wäre nicht gut ausgegangen, wenn man weitergegangen wäre, mit Sherpas, die eigentlich nicht mehr hochsteigen wollten. Es gab manche, die weitermachen wollten, aber die Masse war inhomogen. Man muss ja auch zusammenarbeiten, wenn es darum geht, Fixseile zu verlegen. Es war einfach zu viel passiert.
Matthias Baumann: Entscheidung abzubrechen war richtig
Es gab auch Berichte über Druck, den eine kleine Gruppe Sherpas ausgeübt hat. Hast du davon etwas mitbekommen?
Ja, es war definitiv so. Ich habe mit vielen Sherpas gesprochen. Auch innerhalb der einzelnen Expeditionsgruppen gab es unterschiedliche Meinungen zwischen den Sherpas. Es gab viele, die weitermachen wollten. Andere Sherpas haben gedroht, ihnen das Bein zu brechen, wenn sie noch einmal den Khumbu-Eisfall betreten.
Wirst du noch einmal zum Everest zurückkehren? Und wenn ja, auf der nepalesischen Seite?
Der Traum bleibt natürlich bestehen. Wenn ich die zeitliche und finanzielle Möglichkeit habe, werde ich es bestimmt noch einmal angehen. Die Nordseite kam mir objektiv sehr viel sicherer vor. Die Südseite war für mich interessant, weil der Weg für mich neu war. Wenn ich noch einmal die Chance bekomme, tendiere ich jetzt wieder eher zur Nordseite.“
P.S. Für alle, die Matthias Baumanns Hilfsprojekt mit Spenden unterstützen wollen, hier die Bankverbindung: Himalayan Project e.V., Kreissparkasse Biberach, IBAN: DE45 6545 0070 0007 0581 89, BIC: SBCRDE66, Kennwort: „Sherpa Lawinenopfer“. Danke!