Kaltenbrunner: „Alle Everest-Parteien an einen Tisch!“
Es ist ruhiger geworden um Gerlinde Kaltenbrunner. Ein Umstand, der ihr eigentlich ganz gut gefällt. Nach wie vor ist die 44 Jahre alte Österreicherin eine gefragte Vortragsrednerin. Über mangelnde Arbeit kann sich Gerlinde also nicht beklagen. Doch ihr bleibt immer noch ausreichend Zeit, um auf Reisen zu gehen. Ganz ohne Druck. Der ist verschwunden, seitdem sie 2011 mit dem Erfolg am K 2 ihr großes Projekt erfolgreich abschloss: Als erste Frau der Welt bestieg sie alle 14 Achttausender, ohne zu Flaschensauerstoff gegriffen zu haben. Unsere Wege kreuzten sich 2005 am Mount Everest, als sie (vergeblich) versuchte, gemeinsam mit Ralf Dujmovits und Hirotaka Takeuchi die Nordwand zu durchsteigen und ich als Reporter darüber berichtete. 2010 stieg sie über die tibetische Normalroute zum Gipfel auf. Auf der ISPO in München sprach ich mit Gerlinde über den Everest.
Gerlinde, du hast den Mount Everest wie auch die anderen 13 Achttausender ohne Sauerstoff bestiegen. Im Moment gibt es viel Unruhe rund um den höchsten aller Berge, vor allem wegen des Lawinenunglücks 2014 auf der nepalesischen Seite und dem anschließenden Abbruch der Expeditionen. Die Sherpas begehrten auf. Ist dort ein Konflikt hoch- und dann übergekocht?
Wahrscheinlich hat es sich wirklich über Jahre angesammelt und aufgestaut, dieses Unwohlsein bei den Sherpas, die sich stark ausgenutzt fühlen. Ich denke, es muss am Everest irgendetwas geschehen, weil es so nicht weitergehen kann.
Wer ist gefordert?
Beide Seiten müssen umdenken. Auch wenn ich selbst nie mit Sherpas unterwegs war, weiß ich aus Gesprächen, dass sie sich über die Expeditionen freuen, weil sie davon profitieren. Oft werde ich angesprochen: Die Sherpas bekommen ja nichts. Aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass sie vergleichsweise viel Geld verdienen und damit wirklich ihre Familien ein Jahr lang ernähren können. Andererseits verstehe ich, dass sie dieses erhöhte Risiko nicht mehr eingehen möchten.
Viele Bergsteiger am Everest nutzen die Vorteile der Sherpa-Unterstützung, aber sprechen nicht darüber, dass sie mit Sherpas unterwegs sind. Da fehlt einfach die Wertschätzung. Es wäre schön, wenn die Menschen, die dorthin gehen, wieder mehr Eigenverantwortung mitbringen, mehr Selbstständigkeit beim Bergsteigen. Sie sollten viel mehr die Zusammenarbeit mit den Sherpas suchen, anstatt nur zu fordern, was alles zu geschehen hat. Der Materialtransport in die Hochlager, die vielen Sauerstoffflaschen, das hat wirklich ein Ausmaß angenommen, das ich nicht mehr nachvollziehen kann.
Kaltenbrunner:Es fehlt an Wertschätzung
Aber der Everest ist ein durchkommerzialisierter Berg. Ist es nicht naiv zu glauben, dass sich daran etwas ändert? Weil es dort so viel Infrastruktur gibt, wird der Everest immer auch Menschen anlocken, die von ihren Fähigkeiten als Bergsteiger her eigentlich nicht dorthin gehören.
Das stimmt ganz sicher. Man hat in den vergangenen Jahren gesehen, dass sehr viele Leute dort sind, die mit dem Bergsteigen eigentlich nichts zu tun haben, aber unbedingt den Traum verwirklichen wollen, den höchsten Berg der Erde zu besteigen – egal was es kostet, egal mit welchen Mitteln. Das hat eine Richtung eingeschlagen, die absolut nicht gut ist. Ganz im Gegenteil. Vielleicht ist es wirklich naiv zu glauben, dass sich daran etwas ändert. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Eigentlich weiß jeder, dass es so nicht weitergehen kann und etwas passieren muss. Die Frage ist nur, was genau. Viele sprechen darüber, ich auch. Aber letztendlich hat niemand eine wirkliche Idee, mit der man ernsthaft etwas bewirken und verändern kann. Die Sherpas begehren auf. Einige, mit denen ich gesprochen habe, sagen, sie möchten nicht mehr zum Everest, weil sie genug verdient haben. Viele leben inzwischen im Ausland, viele in Amerika. Andere machen es weiter, weil sie das Geld brauchen, um ihren Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Es ist wirklich ein heikles und schwieriges Thema.
Kaltenbrunner: Die Hoffnung stirbt zuletzt
Ich habe das Gefühl, dass derzeit die Verantwortung hin und her geschoben wird. Die Veranstalter klagen die Regierung an und umgekehrt. Die Sherpas wiederum kritisieren Veranstalter und Regierung. Aber sie setzen sich nicht an einen Tisch und einigen sich auf eine Stoßrichtung.
Genau daran fehlt es, dass sie alle an einem Tisch sitzen und dass jeder sein Ego ein Stück weit zurückschraubt und ernsthaft eine sinnvolle Lösung anstrebt. Es sieht auch nicht so aus, als würde es in nächster Zeit geschehen.
Bist du vor diesem Hintergrund froh, das Kapitel Everest abgehakt zu haben?
Ich möchte es nicht als abgehakt bezeichnen. Aber ich bin auf jeden Fall froh, dass ich 2010 das große Glück hatte, an einem Tag unterwegs zu sein, an dem nur sehr wenige Leute aufstiegen. Es schneite, es war wolkig, ich hatte am Gipfel keinen Ausblick. Aber dafür war es ruhig am Berg. Von Genuss am Gipfel möchte ich nicht reden, dafür war der Aufstieg zu anstrengend. Aber ich habe mich gefreut, es geschafft zu haben.
Außerdem hatten wir damals unser Basislager unterhalb der Nordwand aufgeschlagen. Dort war es ruhig und abgeschieden, wir waren alleine. An diesem großen Berg, wo wirklich viel los ist, hatten wir ein Stück weit unsere Ruhe. Das habe ich genossen und ich freue mich noch heute, dass ich es so habe erleben dürfen.
Kaltenbrunner: Ich habe Ruhe am Everest erlebt
Das wird in der Diskussion ja auch meist unterschlagen, dass es am Everest immer noch die Möglichkeit gibt, bergsteigerische Abenteuer zu erleben. Ich denke nur an die Nordwand oder auch die Kangshung-Flanke. Es gibt durchaus noch Spielwiesen.
Natürlich, für echte Bergsteiger gibt es noch genug zu tun. Ich weiß nicht, ob in diesem Jahr jemand zur Nordwand geht. Dort hast du pure Einsamkeit. Im Basislager nur die gurrenden Schneehühner. Sonst ist es absolut ruhig, und du hast den Blick auf die Nordwand. Auch an der Kangshung-Wand ist niemand unterwegs. Nur auf den Hauptaufstiegsrouten, die von unten bis oben gesichert sind, tummeln sich die Leute. Ich will sie gar nicht Bergsteiger nennen. Natürlich gibt es solche und solche. Aber am Everest sind viele unterwegs, die dort eigentlich nicht hingehören.