Jamling Tenzing Norgay: „Mein Vater wäre geschockt“
Jamling verdanke ich meine ersten Erfahrungen im Himalaya. Ich lernte den Sohn des Everest-Erstbesteigers Tenzing Norgay 2001 kennen, als er in Deutschland sein Buch „Auf den Spuren meines Vaters“ vorstellte. 1996 hatte er selbst auf dem Gipfel des höchsten Bergs der Erde gestanden. Jamlings Buch war das erste, in dem das Unglück am Mount Everest im Mai 1996 aus Sherpa-Sicht betrachtet wurde. Damals waren zwölf Bergsteiger ums Leben gekommen, die meisten Kunden kommerzieller Expeditionen. Am Ende unseres Treffens sagte Jamling: „Wenn du irgendwann mal nach Nepal kommen willst, sag‘ mir Bescheid! Dann helfe ich dir dabei, die Reise zu organisieren.“ Er hielt Wort. Im folgenden Jahr war es soweit: 2002, im Internationalen Jahr der Berge, wanderte ich zum Basislager auf der nepalesischen Seite des Mount Everest. Heute ist Jamling Tenzing Norgay ein begehrter Vortragsredner. Ich habe den 48-Jährigen gefragt, was er in diesem Jahr am Mount Everest erwartet.
Jamling, wir stehen am Beginn der Frühlingssaison am Everest. Glaubst du, dass es in Nepal „business as usual“ gibt oder dass es wegen der Ereignisse im letzten Jahr ganz anders kommt?
Ich denke, es wird wieder auf die gleiche Weise ablaufen wie in den Jahren zuvor. Ich fürchte, dass in diesem Jahr sogar mehr Leute dort sein werden, weil zu den Neulingen auch noch die Bergsteiger hinzukommen, die im vergangenen Jahr nicht zum Zuge kamen. Der einzige Unterschied im Vergleich zum Vorjahr ist, dass die Sherpas einen besseren Versicherungsschutz haben werden – und dass die kommerziellen Veranstalter und die lokalen Partneragenturen sie hoffentlich in diesem Frühjahr auch besser bezahlen.
Hat sich die Stimmung unter den Sherpas nach dem Lawinenunglück des letzten Jahres und dem darauf folgenden vorzeitigen Ende der Klettersaison verändert?
Wir Sherpas sind fröhliche und zufriedene Menschen. Aber natürlich betrauern wir auch den Verlust unserer Sherpa-Brüder, die beim Bergsteigen ums Leben kommen. Nichtsdestotrotz machen wir mit dem weiter, was wir am besten können, und das ist Bergsteigen. Das Risiko nehmen wir bei unserer Arbeit in Kauf.
Was hältst du vom Auftreten der Expeditionsveranstalter? Haben sie aus den Geschehnissen von 2014 gelernt? Oder gab es möglicherweise gar keinen Grund für sie, irgendetwas zu ändern?
Ich finde, das Unglück von 2014 sollte den kommerziellen Veranstaltern und ihren lokalen Agenturen eine Lehre gewesen sein. Das Wichtigste, das jeder im Leben anstrebt, ist Sicherheit. Wir brauchen bessere Lebensversicherungen für die Climbing Sherpas und auch eine bessere Bezahlung.
Am allerwichtigsten ist, dass ihre Familien und Kinder im Falle unvorhersehbarer Ereignisse abgesichert sind. Die Regierung Nepals sollte einen bestimmten Prozentsatz der Besteigungsgebühren in eine Stiftung einzahlen, die die Familien tödlich verunglückter Sherpas finanziell unterstützt und die Ausbildung der betroffenen Kinder sicherstellt.
Was würde wohl dein Vater sagen, wenn er noch lebte und sähe, was sich am Everest abspielt?
Ich glaube, er wäre geschockt, wenn er sähe, wie kommerzialisiert der Berg geworden ist – und dass der Everest von heute eine Spielwiese für jene ist, die glauben, man könne quasi über Nacht zu richtigen Bergsteigern werden.