Der „dritte Mann“
Ich habe es selbst erlebt. Es geschah im Herbst 2011 bei meinem gescheiterten Gipfelversuch am 7246 Meter hohen Putha Hiunchuli im Westen Nepals, auf gut 7000 Metern. Meine Teamgefährten waren außer Reichweite vorneweg, ich kämpfte mich alleine weiter nach oben, körperlich und geistig am Limit. „Please!“, hörte ich plötzlich hinter mir Pemba Nuru sagen, einen unserer beiden Climbing Sherpas. „Bitte was?“, fragte ich und drehte mich um. Aber dort war niemand. Seltsam. Wissenschaftler sprechen vom Phänomen des „Dritten Manns“. Schilderungen derartiger Halluzinationen gibt es zuhauf in Expeditionsberichten von den höchsten Bergen der Welt. Psychiater der Medizinischen Universität Innsbruck und Notfallmediziner des privaten Forschungszentrums Eurac Research in Bozen haben jetzt rund 80 derartige Beschreibungen aus der Alpinliteratur untersucht und nach eigenen Angaben eine neue Krankheit entdeckt: die „isolierte höhenbedingte Psychose“.
Sieben von acht
Bisher waren Höhenmediziner davon ausgegangen, dass organische Ursachen dafür verantwortlich sind, wenn Höhenbergsteiger plötzlich Personen sehen und hören oder Gerüche wahrnehmen, die eigentlich gar nicht da sind. Die Forscher aus Österreich und Südtirol fanden jedoch heraus, „dass es eine Gruppe von Symptomen gibt, die rein psychotisch sind, das heißt, dass sie zwar mit der Höhe zusammenhängen, jedoch weder auf ein Höhenhirnödem noch auf andere organischen Faktoren wie Flüssigkeitsverlust, Infektionen oder organische Erkrankungen zurückzuführen sind“, erklärt Hermann Brugger, Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin in Bozen. Brugger hatte in einer früheren Studie festgestellt, dass sieben von acht Weltklasse-Bergsteigern, die oberhalb von 8500 Metern ohne Flaschensauerstoff unterwegs waren, schon einmal halluziniert hatten.
Beinahe gesprungen
Die gute Nachricht der neuen Studie: Die „nackten“ Psychosen in der Höhe sind nur vorübergehend und hinterlassen keine Folgeschäden. Die schlechte: Am Berg können sie die Alpinisten in ernsthafte Gefahr bringen. So beschreibt der Slowene Iztok Tomazin, einer der Autoren der Studie, eine Halluzination, die er selbst während eines Gipfelversuchs am Achttausender Dhaulagiri im Dezember 1987 hatte. Mehrere Bergführer(-Geister) hätten ihm geraten, die Ostwand hinunterzuspringen. Innerhalb von wenigen Sekunden würde er einen flachen und sicheren Platz 2000 Meter tiefer erreichen und wäre alle Probleme los. „Ich wäre beinahe gesprungen, und das hätte hundertprozentig meinen Tod bedeutet“, schreibt Tomazin. Doch dann besann er sich und machte einen Test: Er sprang nur zwei Meter tief und stieß sich prompt an einem Felsband. Der Schmerz öffnete ihm die Augen, dass es vielleicht doch keine so gute Idee wäre, die ganze Wand hinunterzuspringen.
Weitere Forschungen in Nepal
„Vermutlich gibt es eine Dunkelziffer von Unfällen und Todesfällen infolge von Psychosen“, sagt Notfallmediziner Brugger. Deshalb sei es wichtig, Extrembergsteiger über die möglicherweise auftretenden Halluzinationen zu informieren. Außerdem sollten ihnen Strategien an die Hand gegeben werden, wie sie mit dem „Dritten Mann“ umgehen könnten, ohne in Gefahr zu geraten, ergänzt Katharina Hüfner, Psychiaterin an der Medizinischen Universität Innsbruck. Im nächsten Frühjahr wollen die Wissenschaftler zusammen mit nepalesischen Ärzten im Himalaya weiterforschen. So wollen sie unter anderem herausfinden, wie häufig diese Psychosen in großer Höhe auftreten. „Die höchsten Berge der Welt sind wahnsinnig schön“, sagt Hermann Burger. „Wir wussten nur nicht, dass sie uns auch in den Wahnsinn treiben können.“