Der müde Everest
Vielleicht erinnert ihr euch noch an das Telefonat, das ich vor der „Besteigungs-Saison“ mit dem Mount Everest führte. Jetzt will ich doch mal nachhören, wie es ihm so ergangen ist. Ich wähle über das seit neuestem bestehende Breitbandnetz seine Handynummer. Er meldet sich erst nach dem zehnten Klingeln mit müder Stimme.
Hallo, hier Chomolungma, wer da?
Hier ist Stefan. Habe ich dich etwa geweckt? Es muss bei dir doch schon Mittag sein?
Ich habe zur Abwechslung mal länger in den Federn gelegen. Nach dem Stress der vergangenen Monate habe ich mir den kleinen Schönheitsschlaf ja wohl mehr als verdient.
War es so schlimm?
Was soll ich sagen? Der normale Wahnsinn halt, wie in den letzten Jahren auch. Hunderte von Menschen in den Basislagern auf beiden Seiten, Fixseile bis zum höchsten Punkt, oben Gedränge an den wenigen Gipfeltagen.
Wie viele Besteigungen hast du in diesem Frühjahr gezählt?
Ich zähle nicht mehr. Als im letzten Jahr die Marke 5000 geknackt wurde, habe ich beschlossen, dass es sich nicht mehr lohnt. Früher war ich mal ein heiliger, ein exklusiver Berg. Und heute? Manchmal fühle ich mich regelrecht ausgelutscht, wenn du verstehst, was ich meine. Nehmen wir nur mal Freitag, den 20. Mai. An diesem Schönwettertag standen die Bergsteiger zu Dutzenden auf dem Gipfel.
Hast du auch einmal die Muskeln spielen lassen, als dir das Treiben zu bunt wurde?
Na ja, mit gutem Wetter habe ich die Hanseln nicht gerade verwöhnt. Häufig war es kalt und windig. Abgeschreckt hat es sie aber nicht.
Waren diesmal spektakuläre Besteigungen dabei?
Du kannst Fragen stellen. Spektakel haben viele veranstaltet, aber war es deshalb spektakulär? Die anspruchsvollen Routen blieben wieder verwaist. Alle sind mir über die beiden Normalwege aufs Haupt gestiegen, ausnahmslos mit Flaschensauerstoff. Immerhin hat Michael Horst die erste Traverse von meinem Gipfel über den Südsattel auf den Lhotse geschafft. Aber nicht, ohne dass Sherpas für den Amerikaner auf der Route zum Lhotse 500 Meter Fixseile gelegt hatten.
Es gab vier Todesfälle.
Also komm, damit habe ich nun wirklich nichts zu tun. Wenn ein 82 Jahre alter Ex-Außenminister Nepals meint, er müsse sich an mir versuchen, darf er sich nicht wundern, wenn seine Pumpe schlapp macht. Und die anderen drei habe ich auch nicht abstürzen lassen. Die sind ebenfalls kollabiert, wahrscheinlich höhenkrank. Das kannst du mir nicht in die Schuhe schieben.
Hat dir denn in dieser Frühjahrs-Saison gar nichts gefallen?
Den Gleitschirm-Tandemflug der beiden Sherpas Sanu Babu Sunuwar und Lakpa Tshering vom Gipfel 31 Kilometer weit bis zum Flugplatz Syampoche oberhalb von Namche Bazaar fand ich ganz witzig. Die beiden sind über die nepalesische Normalroute aufgestiegen und dann von der tibetischen Seite aus gestartet.
Hatten die Chinesen nichts dagegen?
Bevor die das hätten spitz kriegen und ihre Abfangjäger losschicken können, waren die beiden längst über den Westgrat zurück nach Nepal geschwebt.
Ein deutscher Bergsteiger hat sich beschwert, ihm seien auf deiner Nordseite im Hochlager auf 8300 Metern die Steigeisen gestohlen worden.
Ich bin unschuldig. Aber ehrlich gesagt, wundert es mich auch nicht. Wahrscheinlich werden demnächst Zeltwachen abkommandiert.
Das Handy-Breitbandnetz scheint ja zu funktionieren. Der Brite Kenton Cool twitterte beim Aufstieg und rief dann vom Gipfel aus seine Frau mit dem Smartphone an.
Nein, wie nett. Und am Ende hat er sich nicht bei mir bedankt, dass ich ihn den Gipfel erreichen ließ, sondern beim Hersteller des Telefons. So weit ist es schon gekommen.
Nimm es nicht so tragisch. Immerhin können wir beide jetzt auch leichter miteinander plaudern.
(Lacht) Ja, darauf hat die Welt gewartet!