Bedrohte Sprache
Eigentlich wollten wir heute den Sonnenaufgang auf einem Berg im Grödnertal in Südtirol genießen. Doch Petrus hatte noch nicht zu Ende geweint. Erst im Laufe des Vormittags verzogen sich die letzten Wolken über Wolkenstein und machten den Blick frei auf die Felsen der Sella-Gruppe. Zeit, sich mit den Menschen dieser Region vertraut zu machen. Das Grödnertal ist eines der wenigen Gebiete Europas, in denen gleich drei Sprachen gesprochen werden: Italienisch, Deutsch und Ladinisch.
Ich sehe, dass ich wenig sehe
Mischmasch
Letzteres klingt wie Latein und das nicht von ungefähr. Ladinisch ist ein Überbleibsel der römischen Herrschaft über das Alpengebiet. Die Einheimischen kombinierten vor 2000 Jahren ihre eigene Mundart, das Rätische, mit dem Latein, das die römischen Beamten und Soldaten sprachen. Heraus kam ein Mischmasch, der ein bisschen klingt, als würde jemand aus einer Bierlaune heraus versuchen, gleichzeitig Italienisch, Deutsch und Französisch zu sprechen. (Eine kleine Ladinisch-Probe könnt ihr unten anhören.)
30.000 sind zu wenig
Noch ist Ladinisch keine tote Sprache, aber eine bedrohte. „In den Dolomiten sprechen nur noch 30.000 Menschen Ladinisch“, sagt Tobia Moroder (um ein paar Ecken mit dem bekannten Musikproduzenten und Komponisten Giorgio Moroder verwandt). „30.000 sind eigentlich zu wenig, damit die Sprache überlebt.“ Tobia arbeitet in Wolkenstein für „Micurà de Rü“. Das ladinische Kulturinstitut ist nach einem Geistlichen benannt ist, der im 19. Jahrhundert erstmals eine ladinische Grammatik verfasste.
Tobia Moroder kämpft für das Überleben des Ladinischen
“Fast wieder in“
In dessen Fußstapfen sind Tobia und seine Kollegen getreten. Derzeit arbeiten sie an einem Wörterbuch Italienisch-Ladinisch. Außerdem pflegt das Institut ein Internet-Portal zur ladinischen Sprache. Im Grödnertal werden die Kinder in der Grundschule zwei Stunden pro Woche in Ladinisch unterrichtet. Es könnte ruhig ein bisschen mehr sein, findet Tobia. Die Sprache sei keineswegs verstaubt, sondern habe sich weiter entwickelt: „Du kannst auch über aktuelle Themen auf Ladinisch reden.“ Heute sei die Sprache unter jungen Leuten „fast wieder in“.
Ich wär so gern ein Millionär
Diese jungen Einheimischen haben jedoch ganz andere Probleme. Willst du in der Touristenhochburg Wolkenstein eine Eigentumswohnung kaufen, zahlst du zwischen 10.000 und 16.000 Euro pro Quadratmeter. Für eine 100-Quadratmeter-Wohnung musst du also schon Millionär sein. Das führt dazu, dass viele junge Leute das Tal verlassen, um sich an preiswerteren Orten anzusiedeln – ladinische Kultur hin oder her.
Ladinisch-deutsch: Tobia Moroder über Sport im Grödner Tal
Kunst ist schön, aber Kitsch verkauft sich
Auch die Holzbildhauer im Grödnertal haben es nicht leicht. Hugo Senoner hat das Handwerk von der Pike auf gelernt. „Wenn du eine Familie hast, empfiehlt es sich, noch eine zweite Einnahmequelle zu haben“, sagt Hugo. Er vermietet Zimmer an Touristen, das bringt ziemlich sicher Geld in die Kasse. Für das Schnitzen nimmt er sich eigentlich erst richtig Zeit, wenn die letzten Skifahrer abgereist sind. Nur noch jeder zweite Bildhauer im Tal beschränke sich allein auf sein Handwerk, erzählt Senoner.
Hugo Senoner mit seinen „Touristen“
Die hiesigen Holzbildhauer genießen einen ausgezeichneten Ruf. Mehrere von ihnen haben in den vergangenen Jahren sogar auf der Biennale in Venedig ausgestellt. Doch mit Kunst kannst du nicht unbedingt deine Monatsrechnung bezahlen. „Wenn es dir nur ums Verkaufen geht, musst du eher kitschige Figuren schnitzen“, sagt Hugo. Ob es ein Zufall ist, dass er sein neues Werk, einen Zigarre rauchenden Dickbauch und eine vollbusige Matrone, „Touristen“ getauft hat?