Mingma Sherpa: „Es war mein schlimmster Fehler“
Keine Spur von Euphorie. Am Mittwoch vergangener Woche erreichte Mingma Gyalje Sherpa – wie hier berichtet – im Rolwaling-Tal in Nepal gegen 17 Uhr Ortszeit den 6685 Meter hohen Gipfel des Chobutse: erstmals über die Westwand und im Alleingang. Ein neuer Meilenstein in der Geschichte des Sherpa-Bergsteigens. Doch anstatt sich ausgelassen über seinen Coup zu freuen, ist der 29-Jährige einfach nur froh, seine Solo-Besteigung überlebt zu haben.
Mingma, du hast schon den Mount Everest, den K 2 und fünf andere Achttausender bestiegen. Wie groß war die Herausforderung bei deiner Solo-Besteigung des Chobutse?
Ich habe den Everest mit Flaschensauerstoff und die anderen sechs Achttausender ohne Atemmaske bestiegen. Dabei kletterte ich jeweils mit Teamgefährten und auf Routen, die mit Fixseilen gesichert waren. Bei einem Alleingang gibt es kein Fixseil und auch keinen Partner, der dich retten kann, wenn du einen Fehler machst. Ein Fehler bedeutet das Ende deines Lebens. Deshalb ist eine Solobesteigung an sich schon eine Herausforderung. Ich habe drei Jahre mit mir gerungen, ehe ich mich für den Solo-Aufstieg entschied. Jetzt habe ich ihn durchgezogen. Den Chobutse zu besteigen, war meine schlechteste Entscheidung und mein schlimmster Fehler. Ich hätte fast mein Leben verloren. Nach meinem Gipfelerfolg verbrachte ich zwei Nächte und Tage ohne Essen, Wasser und Zelt. Zwei bedrohliche Nächte und einen Tag lang verharrte ich im Whiteout an derselben Stelle in der Wand und wartete darauf, dass das Wetter endlich aufklarte. Das einzige, was mich zufrieden macht, ist, dass ich es bis auf den Gipfel geschafft habe, obwohl es die härteste Klettertour meines Lebens war.
Innerhalb eines Monats haben du und deine Sherpa-Freunde zwei ambitionierte Projekte vollendet: Erst eine Trilogie von Erstbesteigungen durch ein Team, das nur aus Sherpas bestand, und dann deine erste Solobesteigung durch einen nepalesischen Kletterer. Welche Botschaft wollt ihr damit in die Bergsteiger-Welt senden?
Erstens leidet Nepal seit dem Erdbeben an einer Wirtschaftskrise, und der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle des Landes. Weniger Touristen heißt, dass wir leiden. Deshalb war es unser Hauptziel, die Nachricht zu verbreiten, dass Nepal wieder ein sicheres Land ist, um dort auf Trekkingtour oder bergsteigen zu gehen. Dies nur in den sozialen Netzwerken oder auf Internetseiten zu verbreiten, reicht nicht aus, weil es zu wenige Menschen glauben. Deshalb dachten wir, es wäre eine gute Idee, die Botschaft mit Aktion am Berg zu belegen. Wir planten die Projekte in der ersten Septemberwoche und setzten sie dann im Oktober um.
Zweitens wollten wir unter den Jugendlichen in Nepal das Interesse für das Bergsteigen wecken. Normalerweise arbeiten nepalesische Bergsteiger für ausländische Bergsteiger, aber das ändert sich gerade. Wir klettern auch für uns selbst. Man kann sagen, wir machen den Beruf zum Hobby.
Drittens stammen wir alle aus dem Rolwaling-Tal in Nepal. Das Rolwaling ist eine sehr entlegene Gegend ohne Strom, Verkehrswege, Schule und Krankenstation. Normalweise lebten dort mehr als 300 Menschen, jetzt sind es nur noch ungefähr 50. Wenn sich nichts ändert, wird das Tal in zehn Jahren menschenleer sein. Wegen der schwierigen Lebensverhältnisse wandert die Bevölkerung in die Haupstadt ab. Unser Anliegen ist es, das Rolwaling-Tal bekannter zu machen. Es gibt dort tolle Plätze zum Eis- und Felsklettern. Wenn das Tal bekannter wird, wollen es auch mehr Leute besuchen. Das bedeutet mehr Arbeitsmöglichkeiten. Wir hoffen, dass die Einheimischen dann auch wieder zurückkehren.
Empfindest du, dass viele westliche Bergsteiger einen falschen Eindruck von den Sherpas haben und dass sich ihr Verhalten den Sherpas gegenüber ändern müsste?
Zweifellos haben westliche Bergsteiger einen guten Eindruck von den Sherpas. Andernfalls würden sie keine Sherpas anheuern, um sicher zu klettern. Die Nachfrage steigt. Heute laden viele westliche Bergsteiger Sherpas aus Nepal ein, mit ihnen in den Alpen, in Pakistan oder sonstwo zu klettern.
Du leitest auch ein Unternehmen, das Expeditionen veranstaltet. Ist es schwierig für dich, das Geschäft und deine eigenen sportlichen Ziele als Bergsteiger unter einen Hut zu bringen?
Ich führe das Unternehmen Dreamers‘ Destination. Aber meistens bin ich in den Bergen unterwegs und leite Expeditionen. Meine Leute glauben an mich und daran, mit mir zu klettern, deshalb muss ich einfach in die Berge. Ich wähle meine Ziele und bedenke gleichzeitig das Geschäft. Und ich habe Angestellte, die sich um das Unternehmen kümmern, wenn ich unterwegs bin. Insofern habe ich keine Probleme.
Wie sehen deine nächsten Pläne aus?
Eigentlich wollte ich versuchen, den Nanga Parbat erstmals im Winter zu besteigen. Aber nach meiner Solobesteigung weigern sich meine Eltern, mich dorthin gehen zu lassen. Deshalb werde ich im April und Mai 2016 eine Expedition zum Kangchendzönga leiten. Ich habe ihn schon 2013 bestiegen. Deshalb haben mich ein paar Freunde gebeten, auch 2016 wieder eine Expedition dorthin zu leiten. Anschließend werde ich im Juni und Juli zum Nanga Parbat und Gasherbrum reisen, um weitere Achttausender zu besteigen, die noch in meiner Sammlung fehlen.
Gibt es einen aktuellen oder früheren Bergsteiger, den du als Vorbild siehst?
Ich bin ein großer Fans meines Cousins Lopsang Jangbu Sherpa, der bei der Everest-Expedition von Scott Fischer im Frühjahr 1996 Bergführer war. (Lopsang versuchte, den entkräfteten Fischer vom Südgipfel herunterzubringen, konnte ihn aber nicht dazu bewegen aufzustehen.) Er bestieg den Everest viermal, dreimal ohne Flaschensauerstoff. Er war damals sehr bekannt. Wenn er heute noch leben würde (Lopsang starb im September 1996 in einer Lawine am Everest), hielte er sicher viele Rekorde am Everest. Die Menschen reden immer noch über ihn und seine Leistungen in jener Zeit.