Bosporus
Wenn ich mit Şara Sayın auf der Dachterrasse ihres Hauses stehe, mit dem herrlichen Blick auf die weite Wasserfläche des Bosporus und seine Ufer, dann wird mir jedes mal klar, dass diese Stadt eigentlich keine richtige „Mitte“ hat. Gut, es gibt die historische Altstadt-Halbinsel und es gibt die „neue“ Altstadt Beyoğlu mit dem Tünel- und dem Taksim-Platz und auf der asiatischen Seite die Bağdad Caddesi. Und das sind auch Zentren für Kultur oder Kommerz oder auch für beides. Doch die eigentliche „Mitte“ der Stadt ist das Meer.
Es ist der Bosporus, der diese gigantische Stadt in zwei Hälften teilt und gleichzeitig miteinander verbindet. Was für eine andere Form von Teilung in einer Stadt, als die Teilung Berlins durch eine Mauer während meiner Studienzeit dort. Und auf dem Wasser verbinden die Schiffe – nicht die Tanker und Container-Frachter, sondern die „Schwäne Istanbuls“, die weißen Bosporus-Dampfer, die zwischen den Stadthälften hin und her gleiten. Die Meerenge ist also nicht nur pittoresker Teil der Landschaft Istanbul, sondern auch wichtiger innerstädtischer Verkehrsweg.
Bei schönem Wetter sitze ich an Deck eines Dampfers und trinke meinen Tee, bei schlechtem Wetter sitze ich drinnen und trinke meinen Tee, immer mit dem Blick auf das Wasser, auf die atemberaubende Silhouette der Stadt und ihre beiden Ufer. Zum Tee gehört ein „Simit“, ein knuspriger Sesamkringel. An allen Schiffsanlegern wie auch fast allen anderen Haltestellen stehen fliegende Händler und verkaufen, was der Istanbuler als Proviant braucht, auf dem teils langen Weg zur Arbeit. Und bei Regen warten Schirm-Verkäufer, die dann bei Sonnenschein mit Sonnenbrillen handeln. Dazu gesellen sich Schuhputzer, Los- und vor allem Teeverkäufer. Denn auch die Händler selber trinken Tee beim Warten und machen lautstark auf sich aufmerksam. Die Ware findet hier den Käufer.
Vor Kurzem sprach mich bei der Überfahrt von Kadıköy nach Karaköy ein alter Mann auf „Gastarbeiter-Deutsch“ an, jenem Idiom aus einfachstem Deutsch mit türkischer Aussprache, das die erste Generation der türkischen Einwanderer zum Teil noch heute spricht. Manchmal wirft man ihnen ja vor, sie hätten versäumt, richtig Deutsch zu lernen. Doch seien wir ehrlich, was ist eigentlich aus unseren eigenen Italienisch-, Griechisch-, Spanisch- oder gar Türkischkursen geworden, die wir abends nach der Arbeit zu bewältigen hofften? Es begann die übliche Konversation:
„…Deutschland? …welche Stadt? …erste mal Türkei?“
Nachdem ich Rede und Antwort gestanden habe, erzählt er über sich. Ein Sohn lebt in Istanbul und arbeitet bei einer Bank, ein anderer Sohn ist Rechtsanwalt in Nürnberg. Er selber lebt seit über 40 Jahren – zunächst als Gastarbeiter ganz und seit der Rente teils – in Deutschland und in den Sommermonaten in Istanbul, er pendelt somit zwischen seinen beiden Welten wie unser Dampfer zwischen europäischem und asiatischem Ufer des Bosporus.
Wenn irgend möglich benutze ich zur Fortbewegung den Dampfer, eine der Barkassen oder miete eines der kleinen Tucker-Boote. Und wenn die Zeit reicht, mache ich sogar einen Umweg, um mich auf dem Wasser bewegen zu können: Statt zum Beispiel in 10 Minuten mit der Straßenbahn von Kabataş nach Karaköy zu fahren, setze ich erst nach Üsküdar über um dann von dort mit dem Schiff zurück ans europäische Bosporus-Ufer nach Karaköy zu fahren – für eine entspannte Dreiviertelstunde mit dem Teeglas in der Hand im Zickzack auf dem Wasser. Öffentlicher Personenverkehr als Schiffsausflug, in welcher deutschen Stadt ginge das schon?