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Treffpunkt - Buluşma Noktası

Türkische und deutsche Kultur im Dialog

Vom Mitgefühl und der Liebe im Straßenverkehr

Einen Tag vor meiner Abreise nach Istanbul sitzen ein Freund und ich in einem Café in der Berliner Oranienstraße und schauen dem Regen zu. In Istanbul war es zu dieser Zeit schon 30 Grad warm. Durch die Fenster beobachten wir die Autos auf den nassen Straßen. Alles fährt und bewegt sich gleichmäßig in einem ruhigen Fluss. Plötzlich gerät der Verkehr ins Stocken. Ein Kleinwagen hat mitten auf der Straße gehalten und hinter ihm staut sich der Verkehr. Vor dem Kleinwagen ist alles frei. Warum hält er? Aus Liebe!

Denn in dem Wagen ganz vorne küssen sich ein junger Mann und eine junge Frau aus der Türkei. Fast könnte man annehmen, dass sie gerade Sex haben. Die Fahrer aus den hinteren Autos tun nichts. Keiner hupt. Keiner schreit aus dem Autofenster. Sie warten. Sie warten, bis die Erregung abnimmt. Vielleicht hört der Regen nicht so schnell auf, aber die Lust wird wohl vergehen. Sie warten. Das junge Paar gibt sich dem Moment der Liebe hin, sie huldigen der Liebe. Hier halten Autofahrer für die Liebe an. Da wir sonst nichts anderes zu tun haben, zählen mein Freund und ich die Minuten. Es sind bereits mehr als fünf Minuten vergangen. Mittlerweile ist der junge Mann aus dem Kleinwagen ausgestiegen, doch das Auto bewegt sich immer noch nicht und der Stau wird immer länger. Als der junge Mann merkt, dass sie nicht weiterfährt, kommt er zurück und beugt sich mit dem halben Körper durch das Fenster ins Auto und schmeißt sich wieder an ihre Lippen. Dann kommt er wieder zum Vorschein, dreht sich um und entfernt sich. Auch der Kleinwagen bewegt sich endlich. Lust und Aufregung vor unserem Café kommen wieder zur Ruhe. Alle Autos setzen sich nun in Bewegung und der Verkehr läuft sofort normal weiter. Es regnet immer noch.

Ich frage mich, wie Autofahrer in der Türkei auf eine ähnliche Situation reagieren würden. Dazu fällt mir ein „typisch türkisches Fahrverhalten“ ein. Um voranzukommen würden sie sofort versuchen den Kleinwagen zu umfahren Die meisten Autofahrer in der Türkei riskieren alles, um andere Autos zu überholen, und mindesten einen Wagenabstand Vorsprung zu bekommen. Dadurch gefährden sie sich nicht nur selbst, sondern auch die anderen Fahrer. Und wozu das Ganze? An der nächsten Brücke, der nächsten Ampel, Stau oder Mautstelle, stehen sie doch alle wieder nebeneinander.

Dieses gefährliche Verhalten der Fahrer im Straßenverkehr ähnelt der Einstellung vieler Bürger zu ihrem Land. Ohne Rücksicht auf Andere, ohne Solidarität mit den eigenen Landsleuten oder Mitmenschen, beutet jeder Jeden aus. Man nutzt die Situation oder die Umstände aus wo man nur kann. Man denkt an den eigenen Vorteil ohne nur einen einzigen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden.

Datum

Sonntag, 21.10.2012 | 09:28

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