Helgas Everest-Alptraum
Eigentlich war sie die Zweite und doch auch irgendwie die Erste. Am 27. Mai 1999 bestieg Helga Hengge den Mount Everest. Als zweite deutsche Frau nach Hannelore Schmatz. Im Gegensatz zu dieser kehrte Hengge jedoch heil ins Basislager zurück. Schmatz war nach ihrem Gipfelerfolg am 2. Oktober 1979 beim Abstieg auf der Südseite des Bergs auf etwa 8300 Meter Höhe an Erschöpfung gestorben. Jahrelang passierten Bergsteiger auf dem Weg zum Gipfel die als „German woman“ bekannte, im Schnee sitzende Leiche, ehe der Wind ein Einsehen hatte und sie in die Tiefe wehte. Helga Hengge erreichte fast 20 Jahre nach Schmatz den höchsten Punkt auf 8850 Metern, von der tibetischen Nordseite aus. „Ich habe mich gefühlt wie eine Göttin“, sagte sie später, „als hätte ich schweben können“. 32 Jahre alt war Hengge, als sie auf dem Dach der Welt stand. Heute bereite ihr der Mount Everest manchmal Alpträume, schreibt mir die 46-Jährige, nachdem ich sie um ihre Gedanken zum 60-Jahr-Jubiläum der Erstbesteigung gebeten habe.
Aufzug zum Grat
„Da träume ich, dass es unten am Gletscher einen Eingang gibt, eine Art Höhle, in deren Tiefe man mit dem Aufzug zum Grat hinauffahren kann.“ Über Eisenleitern am Second Step, so Hengge weiter, drängten die Massen aufwärts. Am Gipfel warte ein Restaurant mit einer großen Terrasse, Tee und Kuchen würden serviert. „ Wolken ziehen auf, ein Sturm bricht heran. Die Menschen in ihren bunten Turnschuhen steigen weiter auf, am Grat entlang. Sie lachen, scherzen. Ich muss sie aufhalten, ihnen sagen, dass es zu gefährlich ist, dass sie sterben werden. Aber dann klettern sie auf die lange Rutsche und sausen glücklich hinunter, und ich wache schweißgebadet auf.“ Ganz so weit ist es am Everest in der Realität noch nicht gekommen, aber grundlos träumt Helga diesen Alptraum nicht. „Wenn es im Basislager dann noch eine Tapferkeitsmedaille und Zuckerwatte für jeden gäbe, würden sich wahrscheinlich nur die Bergsteiger beschweren – und das finde ich irgendwie traurig.“
Vom Sportklettern zum Höhenbergsteigen
Helga Hengges Leben spielte sich zwischen Deutschland und den USA ab. Geboren wurde sie in Chicago, wuchs aber in Bayern auf. Im beschaulichen Deining, das zwischen Nürnberg und Regensburg liegt und von dem aus man bei gutem Wetter die Alpenkette sehen kann. Mit 25 Jahren zog Helga nach New York, wo sie studierte und als Modejournalistin arbeitete. Über das Sportklettern fand sie zum Höhenbergsteigen. 1997 stand sie auf dem Gipfel des Aconcagua, des mit 6962 Metern höchsten Bergs Südamerikas. Weitere Sechstausender folgten. Im Herbst 1998 erreichte Helga am Achttausender Cho Oyu eine Höhe von 7500 Metern. Im folgenden Frühjahr war sie dann am Everest erfolgreich, als einzige Frau im Team des kommerziellen Anbieters Russell Brice aus Neuseeland.
Zum 60. Jahrestag der Erstbesteigung wünscht Helga dem Mount Everest, dass „er bis zum Ende der Zeit den Menschen, die zu seinen Füßen leben, ein gutes Leben beschert. Und dass er die, die zu seinem Gipfel streben, inspiriert, über sich selbst hinauszuwachsen zum Wohle aller Menschen.“ (Die vollständigen Äußerungen Helga Hengges findet ihr auf den beiden Everest-60-Pinnwänden auf der rechten Seite des Blogs).
Aha-Erlebnis in der Buchhandlung
Inzwischen lebt die zweifache Mutter wieder in Bayern, in Grünwald vor den Toren Münchens. Auch nach dem Everest ging Hengge weiter auf Expeditionen. So erreichte sie 2001 den 8008 Meter hohen Mittelgipfel der Shishapangma in Tibet. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie jedoch schon ihr nächstes großes Ziel als Bergsteigerin vor Augen: Sie wollte als erste Deutsche die Seven Summits besteigen, die höchsten Berge aller Kontinente. In einer New Yorker Buchhandlung war sie über ein Buch von Richard („Dick“) Bass gestolpert. Der Amerikaner hatte 1985 als Erster diese Gipfelsammlung vervollständigt – allerdings mit dem Mount Kosciuszko in Australien und nicht, wie heute allgemein üblich, mit der Carstensz-Pyramide in Ozeanien.
„Was für eine Idee! Damals war das natürlich ein fantastischer Traum, viel zu groß um je in Erfüllung zu gehen, aber das tat meiner Begeisterung, ihn zu träumen, keinen Abbruch“, schreibt Helga. „Und heute bin ich sehr glücklich, dass der Schatz, den ich damals gefunden habe, ein Teil meines Lebens geworden ist.“ Am 23. Mai 2011 stand sie auf dem Mount McKinley, dem höchsten Berg Nordamerikas, dem letzten noch fehlenden Gipfel. Damit hatte Helga Hengge die Seven Summits bestiegen. Als erste Deutsche.
P.S. Manchmal wird auch Maria Gisela Hoffmann als erste deutsche Frau auf den Seven Summits angeführt. Sie komplettierte die Sammlung am 21. Mai 2011, also zwei Tage vor Hengge. Hoffmann wurde jedoch als Junge geboren und bestieg die ersten ihrer Seven Summits noch als Mann.