Sherpa-Attacke ‚unter der Gürtellinie‘
Das Telefon klingelt. Am anderen Ende: „Hans Kammerlander!“ Ich hatte den Südtiroler Extrembergsteiger per Email gebeten, mir seine Gedanken zum 60-Jahr-Jubiläum der Everest-Erstbesteigung zukommen zu lassen. Das erledigt Hans nun auf direktem Wege. Der 56-Jährige hat zwölf der 14 Achttausender bestiegen, allesamt ohne Flaschensauerstoff, sieben der höchsten Gipfel zusammen mit Reinhold Messner. Mit ihm gelang Kammerlander auch 1984 die erste (und bis heute nicht wiederholte) Achttausender-Doppelüberschreitung – und das im Alpinstil, also ohne Hilfe von Sherpas, ohne Hochlager, Fixseile und Atemmaske. Die beiden stiegen im Karakorum in Pakistan zunächst auf den Gasherbrum II, auf anderer Route hinunter bis zu einem Sattel, dann direkt hinauf zum Gasherbrum I und wieder auf anderem Weg bergab. Nach acht Tagen kehrten sie ins Basislager zurück. Ein Meilenstein des Achttausender-Bergsteigens. Als Hans in den Morgenstunden des 24. Mai 1996 von der tibetischen Nordseite aus den Gipfel des Mount Everest erreichte, war er dort alleine. Anschließend fuhr er mit Skiern ab, nur an einigen schneefreien Stellen musste er die Bretter abschnallen. In unserem Gespräch geht es nicht nur um diesen Tag, sondern auch um die jüngsten Ereignisse am höchsten Berg der Erde:
Hans, was bedeutet der Mount Everest heute für dich?
Mir war der Berg als Höhenbergsteiger immer wichtig. Ich habe jahrelang von ihm geträumt, weil ich seit der Kindheit zwei Hobbys habe: Klettern und Skifahren. Dann kam plötzlich die Idee, beides am höchsten Berg der Welt zu kombinieren. Für mich ist der Everest eine außergewöhnliche Erinnerung, vor allem der Start mit Skiern oben am höchsten Punkt und die Einsamkeit. Ich bin ja ab 7000 Metern alleine aufgestiegen, ich habe den Berg richtig spüren können. Ich habe den Everest in toller Erinnerung und freue mich, dass ich das Abenteuer schon vor Jahren erlebt habe. Heutzutage wäre es nicht mehr möglich. Am Everest ist alles Tourismus geworden. Mit Alpinismus hat das Geschehen auf den Normalrouten nichts mehr zu tun.
Hat der Everest für dich als Extrembergsteiger seine Faszination verloren?
Natürlich gibt es Routen am Everest, die interessant wären, wo man ganz sicher auch alleine unterwegs ist. Aber auf den normalen Aufstiegsrouten unter Hunderten von Leuten aufzusteigen, wäre für mich ein Horror. Der Berg liegt in Handschellen, in Fesseln, das ist nichts mehr. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. Und wenn es zu solchen Attacken kommt wie vor kurzem gegen Ueli Steck und Simone Moro, stimmt es mich sehr, sehr nachdenklich.
Wie denkst du darüber? Ist da wirklich, wie Ueli und Simone sagen, ein Konflikt aufgebrochen, der sich seit Jahren aufgestaut hat?
Mit Sicherheit. Ich bewundere die beiden. Vor allem Ueli Steck ist ein außergewöhnlich schneller, guter Höhenbergsteiger. Es ist ja ganz klar, dass Simone Moro und Ueli Steck diese Fixseile nicht brauchen. Auch die Sherpas müssen kapieren, dass die Top-Alpinisten der Welt nicht ins Rudel hineingedrängt werden dürfen. Natürlich leisten die Sherpas eine große Arbeit am Everest. Aber sie sind auch Manager geworden, verdorben durch den Massentourismus, durch die Leute, die mit Geld um sich werfen. Die Sherpas machen ihre Arbeit für eiskaltes Geld und wollen halt nicht, dass jemand die Seile nicht benutzt. Sie haben Angst, das löst eine Kettenreaktion aus, dass der nächste sagt, ich brauche die Seile auch nicht. Wenn die Sherpas solche Top-Alpinisten attackieren, finde ich das unter der Gürtellinie. Sehr, sehr schwach. Sie müssen schon ein bisschen mitdenken.
Kammerlander: Sherpa-Attacke unter der Gürtellinie
Warst du überrascht über das Ausmaß der Gewalt?
Ja, natürlich. Das ist niveaulos. Ich weiß, dass vor allem Moro sehr sozial denkt. Er hat sehr viel für die Sherpas getan, etwa mit seiner Flugrettung. Ueli Steck auch. Und wenn Sherpas solche Leute angreifen, muss man sie in meinen Augen einfach rügen. Das ist nicht in Ordnung.
Glaubst du, dass es möglich ist, das verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen?
Es wird ganz schwer sein, das zurückzudrehen, weil die Besteigungen auf diesen Routen schon seit Jahren ein Kasperltheater geworden sind. Es ist auch für das Land eine wichtige Einkommensquelle. Die Genehmigungen, die bezahlt werden. Man könnte Gesetze oder Regeln einführen, aber daran wird Nepal oder auch Tibet nicht interessiert sein.
Wir stehen jetzt vor dem 60-Jahr-Jubiläum der Everest-Erstbesteigung. Was würdest du dem Mount Everest für die Zukunft wünschen?
Ich würde dem Berg ein bisschen mehr Ruhe wünschen – vor allem auch andere Anwärter. Da sind, angelockt durch die kommerziellen Anbieter, Leute unterwegs, für die ein Normal-Aufstieg auf den Mont Blanc vollkommen ausreichen würde, die am Everest eigentlich nichts verloren haben. Auch die Sherpas sehen, welche Leute da heraufmarschieren und präparieren dementsprechend den Berg für diese nicht geeigneten Gipfelanwärter. Ich wünsche dem Everest, dass es in Zukunft nicht mehr so krass sein wird. Dass sich die Leute wirklich schöne, einsame Ziele suchen und so viele wie möglich die Finger von diesem Trampelpfad lassen.
P.S. Nachdem er das „Seven Second Summits“-Projekt beendet hat, hat sich Hans etwas Neues ausgedacht. Er will, wie er sagt, „ganz entspannt die ‚Matterhörner’ der Welt besteigen: Dominante allein stehende Berge, die die Form des Matterhorns haben.“ Er habe sich zunächst acht dieser Berge ausgesucht, erzählt Kammerlander. „Die sind wirklich alle verblüffend ähnlich, wie Zwillingsberge.“ In den nächsten Wochen startet der Südtiroler Richtung Rocky Mountains.