Martin Maier: „Es wirkte alles surreal“
Überlebt! Rund 600 Meter tief wurde Martin Maier am 24. September am Achttausender Shispapangma von einer Lawine mitgerissen. Dass der 39 Jahre alte Bergsteiger aus München dabei nicht ums Leben kam, bezeichnet nicht nur Benedikt Böhm als „kleines Wunder„. Die Lawine hatte sich kurz unterhalb des Gipfels gelöst. Der deutsche Skibergsteiger Sebastian Haag und der Italiener Andrea Zambaldi waren ebenfalls von der Lawine erfasst, im Gegensatz zu Maier jedoch von den Schneemassen verschüttet worden. Die beiden starben. Böhm und der Schweizer Ueli Steck hatten sich gerade noch in Sicherheit bringen können, als der Hang abrutschte.
Martin Maier erholt sich langsam, aber sicher von den Verletzungen, die er sich bei dem Unglück zugezogen hat. Der Ingenieur ist kein Profibergsteiger, hat aber schon jede Menge Expeditionserfahrung gesammelt, unter anderem im patagonischen Inlandeis und auf einigen Sechstausendern in Südamerika. 2012 bestieg er in Nepal den 8163 Meter hohen Manaslu, den achthöchsten Berg der Erde. Martin hat mir seine wirklich unglaubliche Überlebensgeschichte von der Shishapangma erzählt:
Martin, wie geht es dir inzwischen?
Ich habe noch mit vielen Nachwehen der Lawine und der ganzen Tragödie zu kämpfen, mit den Verletzungen, die noch auszukurieren sind. Und dann sind da natürlich immer wieder die Gedanken an die Freunde, die ums Leben gekommen sind.
Welche Verletzungen hast du davongetragen?
Ich hatte ein Schädel-Hirn-Trauma mit einer Gehirnblutung, die zu Gleichgewichts- und koordinativen Störungen führte. Bis heute sehe ich Doppelbilder, die durch die Schädigung eines Hirnnervs verursacht werden. Darüber hinaus hatte ich Rupturen in beiden Knien und einem Sprunggelenk.
Du bist von der Lawine mehrere hundert Meter mitgerissen worden. Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern?
Ich erinnere mich bis zu dem Moment, als ich einen Gletscherabbruch auf mich zukommen sah. Dann verlor ich das Bewusstsein und wachte erst wieder später auf.
Wie war das in den ersten Momenten der Lawine? Hast du noch etwas gedacht oder nur noch rein instinktiv reagiert?
Sowohl als auch, wobei der Instinkt überwog. Es hat eine Zeit gebraucht, bis ich realisiert habe, was überhaupt passierte. Es hat mir die Füße weggezogen und mit den zunehmenden Schneemassen bin ich mir wie in einer Brandung vorgekommen. Ich hatte nicht im Gefühl, was da wirklich vor sich geht. Das Ganze hat langsam angefangen, mit einem Wegrutschen, und sich immens schnell entwickelt. Ich habe nur noch reagiert. Ich habe instinktiv meine Stöcke weggeworfen, dann nach der Schnalle des Rucksacks gesucht, sie auch öffnen und den Rucksack wegschmeißen können.
Das hat dir möglicherweise das Leben gerettet. Du hast anschließend stundenlang bewusstlos auf dem Schnee gelegen. Wovon bist du wach geworden?
Ich weiß es nicht. Ich wachte auf wie nach einem tiefen, langen Schlaf. Ich fühlte mich zurückgeworfen in die Nichtigkeit meiner menschlichen Existenz, im Gegensatz zu den Naturgewalten. Ich hatte den Gipfel im Blick und über ihm die Sonne.
Du hast trotz deiner Verletzungen noch nach Basti Haag und Andrea Zambaldi gesucht.
Ich habe auf dem Lawinenfeld diverse Ausrüstungsgegenstände entdeckt: einen Stock, Handschuhe, einen Rucksack. Ein paar Meter neben mir ragte der Arm von Andrea aus dem Schnee. Da ist mir wirklich bewusst geworden, was eigentlich geschehen war.
Hast du nach den beiden Freunden gegraben?
Der Schnee auf dem Lawinenkegel war betonhart gefroren. Ich habe Andreas Hand angefasst, in der Hoffnung, dass er sich noch regt. Ich habe versucht, nach seinem Gesicht zu graben. Aber es hatte keinen Sinn, der Schnee war steinhart. Ich habe noch geschaut, ob Spuren aus dem Lawinenkegel führen, ob vielleicht irgendwer vor mir herausgekommen ist. Aber das war leider nicht der Fall.
War dir in diesem Moment klar, dass du dich selbst retten musst und nicht auf Hilfe von außen warten kannst?
Mir war im Vorhinein klar, dass ich auf mich allein gestellt bin, was man wahrscheinlich in dieser Höhe ohnehin ist. Ich hatte Basti oben in der Lawine gesehen, Andrea unten. Also wusste ich, dass die beiden definitiv verschüttet waren. Nachdem ich sechs bis sieben Stunden auf dem Lawinenkegel gelegen haben muss, ging ich davon aus, dass auch Beni und Ueli ums Leben gekommen waren.
Trotz deiner Verletzungen hast du Lager 3 erreicht. Wie weit war es vom Lawinenkegel entfernt?
Vielleicht 500, 600 Meter. Ich habe lange gebraucht, bis ich mich orientieren konnte, es wirkte alles surreal. Ich überlegte sogar, in das tibetische Hochland hinunterzusteigen, dorthin, wo kein Schnee mehr lag. Aber mir wurde schnell klar, dass es mit Sicherheit der falsche Weg wäre und ich stattdessen das Lager 3 finden musste. Irgendwann konnte ich einen Orientierungspunkt am Grat entdecken, der mir vom Aufstieg her in Erinnerung geblieben war. Ich war mir sicher, dass ich in dessen Verlängerung unser Zelt finden würde. Es war kein normales Gehen. Ich bin aufgestanden, gefallen, habe mich wieder aufgerappelt, bin gekrochen. Mein Kopf hat funktioniert, aber der Körper hat nicht gehorcht.
Hast du in Lager 3 deine Teamkollegen wiedergetroffen?
Nein. Das Zelt war von den Stürmen der vergangenen Tage stark beschädigt. Wir hatten es bei unserem ersten Gipfelversuch aufgeschlagen und beim zweiten dort gar nicht mehr übernachtet. Das Zelt war eingerissen, innen lag ein halber Meter Schnee, den ich mit den Händen herausgeschaufelt habe. Völlig erschöpft fiel ich ins Zelt und schlief wieder ein. Nachts wachte ich auf, weil ich fror. Ich hatte keinen Schlafsack, keine Taschenlampe, kein Feuerzeug, nichts zu trinken. Nachdem ich die Nacht dann doch einigermaßen gut überstanden hatte, versuchte ich am Morgen, aus eigener Kraft weiter abzusteigen. Doch als ich aus dem Zelt trat, fiel ich gleich ein paar Meter hinunter. Ich war nur froh, dass ich nicht vom Grat gestürzt war. Mir war klar, dass ich mich vor dem nächsten Versuch noch ausruhen musste. Ich setzte mich ins Zelt, fand nun auch ein Feuerzeug und schmolz mir Schnee zum Trinken. Gegen 10 Uhr erschien Norbu Sherpa, der mir den gesamten Weg vom Basislager entgegengekommen war und rief von weitem, ob jemand da sei. Ich war sehr glücklich, ihn zu sehen.
Wie wirst du mit diesem tiefgreifenden Erlebnis fertig? Beschäftigt dich das Erlebte Tag und Nacht?
Nein. Ich habe es, soweit man dies überhaupt kann, sehr gut verarbeiten können. Ich werde nicht von Alpträumen geplagt und habe keine nachhallenden Erinnerungen. Natürlich mache ich mir viele Gedanken. Ich muss mich auch täglich damit auseinandersetzen, weil sich die Versicherungen melden oder Freunde anrufen, die wissen wollen, was passiert ist. Auch wenn diese Phase sehr anstrengend ist, die Tragödie an sich ist bei mir recht klar angekommen. Ich bin mir der Gefahren beim Bergsteigen seit jeher bewusst und das, was passiert ist, ist unendlich traurig, aber es ist wohl Bestandteil dieses Sports.
Siehst du es auch als kleines Wunder an, dass du überlebt hast?
Ich bin mir meines Glücks bewusst. Ich hatte einen Schutzengel, der dafür gesorgt hat, dass ich, nachdem ich das Bewusstsein verloren hatte, auf der Lawine zum Liegen kam und nicht verschüttet wurde. Doch der Rest war mein eigener Kampf ums Überleben, gegen die Naturgewalten. Nachdem ich aufgewacht war, bin ich selbst zurückgegangen. Ich habe die Kälte und die Strapazen überstanden. Das war mein eigenes aktives Handeln.
Andererseits verspüre ich eine tiefe Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die mir in dieser Situation geholfen haben: Thomas Kämpf, der nach dem Lawinenabgang vom Basecamp auf einen gegenüberliegenden Berg gestiegen ist, um einen Einblick in den Lawinenkegel zu bekommen. Er sah, dass sich jemand in Richtung Lager 3 bewegte und animierte damit die vielen Helfer. Suzanne Hüsser, die von unten alles koordinierte. Allen voran Norbu, der zu mir aufgestiegen ist und Carlos Martinez, dem spanischen Expeditionsarzt, der mich ab Lager 2 medizinisch versorgt hat. Ich weiß gar nicht, wie ich all den Menschen danken soll.
Du bist dem Tod von der Schippe gesprungen, kehrst du verändert in die Berge zurück?
Ich weiß es nicht. Ich hatte aufgrund der Verletzungen bisher noch keine Gelegenheit, in die Berge zu gehen. Aber die Lawine war natürlich ein einschneidendes Erlebnis. Ich kann mir vorstellen, dass ich viele Dinge intensiver erleben und bewusster aufnehmen werde.
Aber du machst keinen Bogen um die Berge?
Definitiv nicht.
Und feierst du jetzt zweimal im Jahr Geburtstag?
Nein, ich habe nur einen. (lacht)