Zu jung für Todesgefahr
Tyler Armstrong will den Rekord. Oder sind es vielleicht doch eher seine Eltern, die es wollen? Oder alle drei? Wie auch immer, die Familie des elfjährigen (!) US-Amerikaners hat angekündigt, dass Tyler im nächsten Frühjahr versuchen werde, den Mount Everest zu besteigen. Verrückt! Dann wäre Tyler zwölf Jahre und vier Monate alt, anderthalb Jahre jünger als sein Landsmann Jordan Romero, der 2010 den Everest von Tibet aus bestieg und seitdem als jüngster Besteiger des höchsten Bergs der Erde geführt wird.
Tränen im Hochlager
Schon damals gab es – wie ich finde, absolut notwendig – eine Debatte darüber, ob es verantwortbar ist, dass ein so junger Mensch auf den Everest steigt und dabei sein Leben riskiert, womöglich noch angetrieben von überehrgeizigen Eltern. Ein Bergsteiger, der 2010 auch am Everest unterwegs war, erzählte mir, dass Jordan im Zelt auf 7000 Metern Höhe bitterlich geweint habe und seine Eltern ohne Unterlass auf ihn eingeredet hätten. Später wiederholte Romero gebetsmühlenartig, es sei sein eigener Wunsch gewesen, den Everest zu besteigen.
Butterweiche Regel
Als Reaktion auf die weltweite Kritik am Aufstieg des Teenagers verkündete die China Tibet Mountaineering Association im Sommer 2010, dass sie künftig nur noch Everest-Permits für Bergsteiger ausstellen werde, die älter als 18 Jahre sind. Allzu lange wurde die Regel jedoch nicht eingehalten. 2014 bestieg die Inderin Malavath Poorna von Tibet aus den Everest. Mit 13 Jahren und elf Monaten war sie nur einen Monat älter als Romero und wurde so die jüngste Frau oder eher das jüngste Mädchen, das jemals auf dem Dach der Welt stand.
Wenn Tyler Armstrong sich im nächsten Frühjahr wirklich auf den Weg zum Everest machen sollte, wird er – wenn überhaupt – wohl auch nur auf der tibetischen Nordseite eine Chance erhalten. In Nepal gilt nach den Regeln für Expeditionen, die seit 2002 unverändert Bestand haben, ein Mindestalter von 16 Jahren.
Temba Tsheri: „Zu wenig Erfahrung“
So alt, nämlich 16 Jahre, war im Mai 2001 Temba Tsheri Sherpa, als er von Süden aus als damals jüngster Bergsteiger aller Zeiten zum Gipfel des Everest aufstieg. „Ich denke, ich hatte damals nicht genug Erfahrung. Das war mein erster Versuch überhaupt an einem Achttausender“, sagt mir der 30-Jährige im Rückblick selbstkritisch. „Ich hätte eigentlich vorher mehr Bergerfahrung sammeln müssen.“ Auf meine Frage, ob er sein eigenes Kind so früh auf den Everest steigen lassen würde, antwortet Temba Tsheri: „Vielleicht nicht.“
Der Sherpa war immerhin ein Jugendlicher, als er den Everest bestieg. Tyler Armstrong wäre dagegen als Zwölfjähriger immer noch ein Kind. Als solches verspricht ihm die UN-Kinderrechtskonvention „wegen seiner mangelnden körperlichen und geistigen Reife“ besonderen Schutz und besondere Fürsorge. „Wenn man die Gefahr als Kriterium nimmt, müsste Tylers Aufstieg verboten werden. Denn sein Leben ist am Everest gefährdet”, findet Temba Tsheri.
Ausnahme-Permits
Tylers Eltern scheinen sich nicht um die Gesundheit ihren Filius‘ zu sorgen. Armstrong bestieg 2012 schon als Achtjähriger den Kilimandscharo, den mit 5895 Metern höchsten Berg Afrikas, ausgestattet mit einem „Special Permit“, weil die Altersgrenze dort eigentlich bei zehn Jahren liegt. Auch am 6962 Meter hohen Aconcagua, dem höchsten Berg Südamerikas, erwirkten die Eltern eine Ausnahme vom Alterslimit 14 Jahre. Ende 2013 wurde Tyler der jüngste Aconcagua-Besteiger aller Zeiten: mit neun Jahren. Und jetzt auf den Everest? Wenn das so weiter geht, wird bestimmt demnächst im Basislager eine Kindertagesstätte aus der Taufe gehoben, für die ganz jungen Gipfelaspiranten. Direkt neben dem Seniorenzentrum, für die Ü80er, die sich den Altersrekord schnappen wollen.