Scherer: „Eisklettern ist eine Metapher“
Eisklettern ist faszinierend, aber auch gefährlich. Mit viel Glück hat der österreichische Extrembergsteiger Thomas Bubendorfer vor zwei Wochen einen Zehn-Meter-Sturz von einem vereisten Wasserfall in den Dolomiten überlebt. Der 54-Jährige war in einem Bachbett gelandet und hatte sich lebensgefährliche Verletzungen zugezogen. Eine Woche lang wurde Bubendorfer im künstlichen Koma gehalten. Anfang dieser Woche wurde er ins Salzburger Uniklinikum verlegt. Er sei außer Lebensgefahr, ansprechbar und muss nicht mehr beatmet werden, sagte gestern eine Sprecherin des Krankenhauses.
Noch vor Thomas‘ Unfall hatte ich mit Matthias Scherer gesprochen. Der 42-Jährige ist Profi-Eiskletterer, seit 1993 hat er mehr als 500 gefrorene Wasserfälle in Europa und Kanada erklettert. Der gebürtige Frankfurter, lebt und klettert mit seiner Frau Tanja Schmitt in Cogne im Aostatal, auf der Südseite des Mont Blanc.
Matthias, gibt es unter euch Eiskletterern so etwas wie ein Netzwerk, über das ihr euch austauscht, wo gerade die besten Eisverhältnisse herrschen?
Extremes Eisklettern ist wie Bigwave-Surfen. Wir haben eine vergleichbare Community. Es gibt einen regen Austausch unter Leuten, die extreme Routen klettern. Das ist eine sehr kleine Gruppe. Ich habe ständig Kontakt zu Leuten in Kanada, in Norwegen, natürlich auch zur französischen Szene. Wir tauschen uns aus, wo es gerade möglich sein könnte. Es ist wie bei den Surfern. Man muss dem Eis folgen, dorthin, wo die Verhältnisse stimmen.
Surfen gelten als die „verrückten Hunde“ im Sport. Seid ihr die verrückten Hunde unter den Kletterern?
Wenn wir die ‚big lines‘ klettern, ist das sehr stark dem Alpinismus verbunden. Vielleicht sogar die reinste Form des Alpinismus, wenn man sich die Leute und ihre Werte ansieht.
Inwiefern?
Insofern, dass normalerweise nicht viel nach außen geredet wird. Es ist ein sehr geschlossener Zirkel. Vielleicht bin ich noch derjenige dieser extremen Eiskletterer, der sich am meisten promotet. Viele bleiben sehr im Hintergrund und wollen das auch so.
Woran liegt das?
Viele wollen diesen Moment nur mit sich und der Seilschaft teilen. Ich finde das eigentlich schade. Ich finde die Geschichten, die wir dort erleben, teilweise sehr wichtig. Zum einen ist es Abenteuer, zum anderen ist es eine sehr gute Metapher für das, was wir sonst erleben.
Eine Metapher für was?
In diesen extremen Linien – wie ich sie zum Beispiel im letzten Winter in Norwegen mit meiner Frau Tanja Schmitt und ihrer Zwillingsschwester Heike geklettert bin – stellen sich existenzielle Fragen. Die Eisstruktur, auf der man klettert, kann so brüchig sein, dass die gesamte Seilschaft in Gefahr ist. Da stellt sich die Frage, wie so oft im Leben: Will man es in diesem Augenblick riskieren oder denkt man voraus, passieren kann? Auf der einen Seite steht der Wunsch, alles hinter sich zu lassen, auf der anderen Seite aber auch die Notwendigkeit, vernünftig zu bleiben. Das ist die Herausforderung, die jeder Mensch im Leben hat. Beim extremen Eisklettern wird sie extrem auf den Punkt gebracht – in dem Moment, in dem du dich entscheiden musst.
Es ist ein schmaler Grat beim Klettern, ob im Fels oder im Eis. Man versucht, an die Grenze zu gehen, vielleicht sogar darüber hinaus. Besteht da nicht die Gefahr, den Bogen zu überspannen?
Ja, gerade beim Eisklettern. Und das ist eben die Kunst beziehungsweise das Kriterium, das einen professionellen Eiskletterer ausmacht. Dass er über Jahre hinweg mit Leidenschaft immer wieder an diese Grenze geht und dieses Gratwandeln schafft, ohne daran zu zerbrechen. Ich habe es immer wieder erlebt, dass es diese Kometen in unserer Disziplin gibt, die aufsteigen und auch wieder sehr schnell verschwinden. Zum einen, weil sie die Motivation verlieren, zum anderen weil sie Unfälle haben. Das ist noch extremer als beim Felsklettern, weil das Eis ein ephemeres (rasch vorübergehendes] Medium ist. Auch mit 25 Jahren Erfahrung hat es für mich immer noch einen hohen Faktor der Unberechenbarkeit. Das Eis befindet sich ständig im Wandel. Ich kann dreimal in der Woche an denselben Wasserfall gehen und es wird doch immer anders sein. Schon eine Temperaturschwankung von fünf Grad kann das Eis komplett verändern. Man kann einen Wasserfall nicht zweimal in derselben Form klettern. Das ist das Faszinierende beim Eisklettern.
Gibt es wie beim Sportklettern auch beim Eisklettern eine Altersgrenze, bei der man seinen Zenit einfach überschritten hat, weil Muskel- und Schnellkraft nachlassen?
Beim Eisklettern spielt vor allem Erfahrung eine ganz, ganz große Rolle. Es ist ein extremes Denkspiel. Natürlich kommt es auch auf Kraft an, aber nicht so wie beim Sportklettern. Wenn man die Eisqualität richtig einschätzen kann, verbraucht man deutlich weniger Kraft, weil man entspannter im Kopf bleibt. Ich erlebe es oft, wenn ich mit jungen Eiskletterern unterwegs bin, dass sie in Stress-Situationen ihre Kraft verschwenden. Umgekehrt klettere ich mit Freunden wie Steve Swenson, der schon über 60 Jahre alt ist und immer noch hart im Eis unterwegs sein kann, weil er diese Gelassenheit hat – dieses Zen, diese Ruhe, die man braucht, um auf einer freistehenden Säule locker zu stehen und einzuschätzen, dass dabei nichts passieren wird. In diesem Punkt wird man mit dem Alter eigentlich immer stärker.