Helga Hengge: „Der Everest hat mir viel gegeben“
Du hast einen Berg erst erfolgreich bestiegen, wenn du nach dem Gipfel auch wieder sicher das Tal erreichst. In diesem Sinne war Helga Hengge die erste erfolgreiche deutsche Bergsteigerin am Mount Everest. Als Mitglied eines kommerziellen Expeditionsteams erreichte sie im Frühjahr 1999, von der tibetischen Nordseite aufsteigend, den 8850 Meter hohen Gipfel. Hannelore Schmatz war im Herbst 1979 zwar als erste deutsche Frau auf den höchsten Punkt des Everest gelangt, beim Abstieg jedoch auf 8300 Metern an Erschöpfung gestorben.
2011 komplettierte Hengge als erste deutsche Bergsteigerin die Sammlung der „Seven Summits“, der höchsten Berge aller Kontinente. Inzwischen ist Helga 51 Jahre alt. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer zwölfjährigen Tochter und ihrem elfjährigen Sohn in München – und geht immer noch in die Berge. Im vergangenen Herbst versuchte sie sich am 6543 Meter hohen Shivling im indischen Himalaya. Ich habe sie am Rande eines Vortrags in Köln getroffen.
Helga, es ist jetzt fast 19 Jahre her, dass du auf dem Mount Everest warst. Hast du noch eine besondere Beziehung zu dem Berg?
Ja, ganz sicher. Ich dachte immer, dass würde nach einer Weile verschwinden. Aber ich finde sogar, dass diese Beziehung stärker wird. Ich spüre erst jetzt, wie viel ich von diesem Berg für mich und mein Leben mitgenommen habe.
Was denn konkret?
Eine ganz tiefe Gelassenheit, die in mich eingezogen ist. Sehr viel Zuversicht. Und Glauben an eine Kraft von innen und auch an eine göttliche Kraft in den Bergen.
Helga Hengge: Was mir der Everest gegeben hat
Verfolgst du noch immer, was am Everest geschieht, z.B. jetzt die Winterexpedition von Alex Txikon?
Ja, und das mit großer Faszination. Nach Weihnachten kommt diese eher ruhige Zeit im Januar. Ich habe dann immer das Gefühl, alle gehen zum Everest, nur ich nicht. (lacht) Leute aus dem Freundes- oder Bekanntenkreise brechen auf, oder andere Bergsteiger, die twittern und auf Instagram oder Facebook posten. Da ist so viel Energie und große Vorfreude. Und das erinnert mich immer an meine Vorfreude damals.
Was hat sich denn aus deiner Sicht seit 1999 am Everest verändert?
Auf der Nordseite war es damals noch relativ ruhig. Wir waren insgesamt rund 150 Menschen am Berg, inklusive Küchencrews und Base-Camp-Managern. Das hat sich nicht so voll angefühlt. Wenn ich jetzt die Bilder sehe, ist dort sehr viel mehr los. Aber so ist es halt auf unserer Welt. Überall wird immer mehr los sein, natürlich auch am Everest.
Hast du das Gefühl, dass der Berg dadurch seine Würde verliert?
Nein, das kann er nicht. Ich finde es auch ganz schwierig zu sagen, wie es jetzt die nepalesische Regierung wieder versucht: Die einen dürfen, die anderen dürfen nicht. Menschen dort auszuschließen, sie nicht hinaufsteigen zu lassen, das finde ich ganz schwer und immer ungerecht. Der Berg hat eine wahnsinnige Ausstrahlung und Anziehungskraft. Es gibt halt unheimlich viele Menschen, die dort unbedingt hinaufsteigen wollen. Ich kann das ganz gut nachvollziehen.
Helga Hengge: Schwierig, irgendwen vom Everest auszuschließen
Träumst du manchmal noch von deinem Aufstieg?
Nein. Aber ich hatte eine ganze Weile so etwas wie einen Horrortraum vom Everest – vielleicht hervorgerufen durch die Bilder von den Unglücken oder auch von den riesigen Menschenschlangen, wo Hunderte auf einer Aufstiegsroute unterwegs waren. Das ist schon erschreckend. Damals träumte ich, dass die Chinesen einen Aufzug von der Mitte des Berges bis kurz unterhalb des Gipfels gebaut hätten. Oben gab es ein Häuschen, in dem man Pause machen konnte. Von dort zogen sie dann alle los, mit Turnschuhen! Ich war dann im Traum ganz aufgeregt: Die können doch nicht mit Turnschuhen aufsteigen, das ist viel zu gefährlich. Ich muss sie zurückhalten!
Helga Hengge: Mein Horrortraum vom Everest
Du warst die erste deutsche Frau, die auf dem Gipfel des Everest war und auch wieder lebendig heruntergekommen ist. Hast du das Gefühl, dass diese Botschaft in der Öffentlichkeit überhaupt angekommen ist?
Ich glaube schon. Bei meinen Vorträgen werde ich jedenfalls häufig darauf angesprochen. Ich lebte damals in New York und bin einfach zum Everest gefahren. Ich hatte keine Sponsoren. Mir war damals nicht bewusst, dass ich die erste Deutsche sein würde. Das habe ich erst hinterher erfahren. Wenn ich es vorher gewusst hätte, hätte ich mich wahrscheinlich mehr angestrengt und weniger gejammert. Das wäre sicher meinem Team zugutegekommen.
Mussten sie dich dort hinaufschleppen?
Nein, ganz so schlimm war es nicht. Aber ohne die Sherpas, die Tiger des Himalaya, wäre ich ganz sicher nicht dort hinaufgestiegen.
Für manche ist der Everest ja der Höhepunkt, nach dem sie kürzer treten. Bei dir war es eher eine Initialzündung, so richtig zu den Bergen der Welt aufzubrechen.
Zunächst schon. Ich habe danach noch vier Achttausender probiert und einen geschafft, die Shishapangma (Sie erreichte 2001 den 8008 Meter hohen Mittelgipfel). Anschließend habe ich meinen Mann kennengelernt, eine Familie gegründet. Mit zwei kleinen Kindern kannst du nicht einfach aufbrechen. Später habe ich mich auf die Seven Summits besonnen, die ich dann bis 2011 komplettiert habe. Jedes Jahr einen.
Im vergangenen Herbst warst du wieder im Himalaya, im indischen Teil, am Sechstausender Shivling, einem prestigeträchtigen Berg. Was hat dich dorthin gezogen?
Es ist der heilige Berg Indiens. Er hat mich schon sehr lange fasziniert. Es ist ein technisch sehr schwieriger Berg, sicherlich an der Grenze meines Könnens. Aber der Aufstieg war gar nicht so wichtig für mich. Ich wollte unbedingt diese Pilgerreise machen und Zeit dort verbringen. Es ist wirklich einer der beeindruckendsten Berge, bei denen ich jemals war. Aus ihm strahlt ein ganz großes Glück heraus. Immer wenn ich an die Expedition zurückdenke, muss ich lächeln, weil es so schön war.
Obwohl ihr 400 Meter unterhalb des Gipfels wegen Eisschlaggefahr umkehren musstest?
Wir sind schon schweren Herzens umgekehrt, weil wir so viel Arbeit in diesen Berg gesteckt hatten. Drei Tage später sind wir zurückgewandert. Nahe dem Gletschertor von Gaumukh, wo die heilige Quelle des Ganges entspringt, begegneten wir einem Sadhu [„Heiliger Mann“ im Hinduismus], der den Pilgerpfad hinaufgewandert kam. Er fragte mich: „Woher kommt ihr?“ Ich antwortete: „Vom Shivling.“ Wir waren zerzaust, sonnenverbrannte Gesichter, wir sahen schon wild aus. Dann sagte er: „Ihr Glücklichen!“ Erst da habe ich gemerkt, wie recht er eigentlich hatte. Es war ja nur der eine Tag, der uns vielleicht gefehlt hat. Aber es war ein ganz besonderes Glück, dass wir diese Reise überhaupt machen konnten.
Helga Hengge über die Begegnung mit einem Sadhu nahe dem Shivling
Gibt es noch andere große Bergträume, die du hegst?
Einen nach dem anderen. Ich würde gerne noch einmal zum Damavand [5611 Meter, höchster Berg im Iran] reisen, wo wir im letzten Jahr wegen eines wilden Sturms nicht aufsteigen konnten. Und dann gibt es im Iran noch einen weiteren heiligen Berg, den Sabalan [4811 Meter, dritthöchster Berg des Iran]. Den möchte ich auch besuchen.
Das klingt so, als wärest du nicht nur mehr auf die Höhe aus, sondern hättest deine Kriterien geändert.
Sehr sogar. Nach dem Everest bin ich erst einmal in ein Loch gefallen. Drei Jahre Vorbereitung und ich habe mich nie gefragt: Was mache ich eigentlich, nachdem ich am Everest war? Das war schon schwer. Anschließend mühevoll die anderen Achttausender, das war nicht meins. Dann habe ich Gott sei Dank die Seven Summits entdeckt. Doch als die vorbei waren, war es für mich wieder sehr schwer. Es war schließlich ein Projekt über 14 Jahre. Plötzlich steht man auf dem letzten Berg und sollte eigentlich der glücklichste Mensch auf Erden sein. Doch nun hat man keinen Grund mehr, sich auf etwas vorzubereiten. Aber jetzt habe ich die heiligen Berge und die sind endlos. Es gibt sie auf allen Kontinenten, in allen Religionen und Kulturen. Das ist eigentlich das viel schönere Ziel.
P.S. Nochmals zurück zum Everest: Eine Leserin meines Blogs untersucht für ihre Bachelorarbeit an der Universität Gießen, wie Bergsteiger und andere Bergtouristen den Klimawandel im Everest-Nationalpark wahrnehmen. Hier geht es zu ihrem Fragebogen.