Luis Stitzinger wird 50: „Ich versuche noch mal den Everest“
Ohne ihn dürfte ich mich nicht Erstbesteiger nennen. Luis Stitzinger war im Sommer 2014 der Expeditionsleiter des Veranstalters „Amical Alpin“, der uns am 7129 Meter hohen Kokodak Dome im Westen Chinas zum maximalen Erfolg führte: Alle 16 Teammitglieder erreichten den Gipfel – nicht zuletzt dank Luis‘ Erfahrung und Umsicht. Stitzinger stand bereits auf acht Achttausendern: Cho Oyu (2000), Gasherbrum II (2006), Nanga Parbat (2008), Dhaulagiri (2009), Broad Peak (2011), Shishapangma (2013), Manaslu (2017) und Gasherbrum I (2018). Allesamt hat er sie ohne Flaschensauerstoff bestiegen, sechs davon gemeinsam mit seiner Ehefrau Alix von Melle.
An diesem Sonntag feiert Luis seinen 50. Geburtstag, „unter Palmen am Sandstrand“, wie er mir lachend erzählt. Mit Alix gönnt er sich einen dreiwöchigen Urlaub im griechischen Kletterparadies Leonidio: „Das habe ich mir zum Geburtstag geschenkt.“ Ich habe mit ihm vor seiner Abreise gesprochen.
Luis, ein halbes Jahrhundert, wird da nicht auch einem erfahrenen Höhenbergsteiger ein bisschen schwindelig?
Die Zahl fünf da vorne ist auf den ersten Blick schon etwas erschreckend. Auf der anderen Seite hatte ich jetzt ein Jahr lang Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Und wenn man es hin und her denkt, wird einem auch bewusst, dass dieser Übergang ja nur vom Menschen definiert und nicht messerscharf ist. Es ist nur eine Zahl. Ich fühle mich nach wie vor gut. 50, das hört sich schon verdächtig nahe der Verrentung an. Aber so fühle ich mich eigentlich überhaupt nicht.
Wenn du dich jetzt mit dem Luis vergleichst, der 25 Jahre alt war, erkennst du dich dann noch wieder?
Ja schon, aber ich habe mich in der Zeit natürlich auch verändert. Ich würde nicht noch einmal 25 sein wollen, weil ich mich jetzt viel selbstsicherer fühle. Ich kann die Dinge auch viel mehr genießen als damals. Wenn man sich in der Zeit zurücktransportieren könnte, würde ich eher 36 oder 38 Jahre ansteuern.
Warum dieses Alter?
Weil man dann schon einige Erfahrungen im Leben gesammelt hat. Auch beruflich war ich in einem Fahrwasser, das mir getaugt hat, wo ich mich angekommen gefühlt habe. Privat und sportlich war das ein Alter, in dem ich gut unterwegs war und in mir geruht habe. Mit Mitte 30 ist man einerseits kein Grünschnabel mehr, andererseits aber auch noch nicht wirklich alt.
50 Jahre sind so eine Marke, an der man sowohl zurück-, als auch nach vorne schaut. Blicken wir zunächst zurück! Gibt es ein Highlight in deiner Bergsteigerkarriere, das du besonders hervorheben würdest?
Gerne denke ich immer an den Nanga Parbat 2008 zurück. Wir haben dort dreimal so viel erlebt wie andere, weil wir ja wirklich dreimal am Berg unterwegs waren. Erst haben wir mit der Gruppe des „DAV Summit Club“ den Gipfel über die Kinshofer-Route auf der Diamirseite bestiegen. Dann habe ich mit meinem Bergkameraden Josef (Lunger) versucht, den Mazeno-Grat zu überschreiten. Bis zum Mazeno Col sind wir gekommen, dann mussten wir absteigen, weil uns Gas und Nahrung ausgegangen waren. Und schließlich bin ich noch die zentrale Diamir-Flanke mit Skiern abgefahren.
Du hast deinen ersten Achttausender, den Cho Oyu, im Jahr 2000 bestiegen. Wie hat sich das Höhenbergsteigen im Himalaya und Karakorum aus deiner Sicht in den vergangenen 18 Jahren verändert?
An gewissen Bergen ist viel mehr los als damals, es ist allgemein teurer geworden und damit elitärer. An manchen Bergen können sich das nur noch reiche Leute leisten. Auch die Szene der Expeditionsveranstalter hat sich verändert. Aus ehemals wenigen größeren Unternehmen ist mittlerweile eine Vielzahl an Veranstaltern geworden. Immer mehr übernehmen auch lokale Anbieter den Markt. Sie veranstalten – wie z.B. am Manaslu im Herbst 2017 – riesige Expeditionen von mehreren hundert Leuten am Berg.
Inzwischen haben auch die Asiaten das Höhenbergsteigen für sich entdeckt. Es sind sehr viele, teilweise auch unerfahrene Leute unterwegs, die umfassende Betreuung brauchen. Der Stilwandel weg von den großen Achttausender-Expeditionen der frühen Zeiten hin zum Individualbergsteigen, das Messner, Habeler und Konsorten eingeleitet haben, hat sich mittlerweile wieder umgekehrt.
Das klingt, als hättest du damit extreme Bauchschmerzen.
Es erfreut mich nicht, weil es in meinen Augen eine sehr kipplige Sache ist. Es ist solange sicher, wie diese unerfahrenen Teilnehmer massiv betreut werden und die dafür Zuständigen auch zur rechten Zeit die richtigen Strippen ziehen. Aber wehe, es geschieht einmal zu spät oder die Betreuung fällt aus irgendeinem Grund weg. Dann wird es ganz schnell ein gefährliches Vabanque-Spiel. Ich erwarte, dass irgendwann ein größeres Unglück passiert. Es wird zwangsläufig kommen.
Glaubst du, dass ein solches Unglück etwas ändern würde?
Eher nicht. Wenn man z.B. sieht, wie sich jetzt die Regeln in Tibet verschärft haben, geht das eigentlich komplett in die falsche Richtung. Die Individualbergsteiger werden eingeschränkt. Die chinesischen Behörden sehen den einzelnen Bergsteiger, der sein eigenes Spiel spielt, eher als Gefahr an – selbst wenn er das Spiel im Griff hat und weiß, auf was er sich einlässt. Als sicher wird dagegen angesehen, was die großen Veranstalter dort treiben: mit massivem Climbing Sherpa- und Bergführer-Einsatz, um den unerfahrenen Teilnehmern möglichst viel Personal an die Hand zu geben. Für die Behörden ist das der Weg der Zukunft. Im Falle eines Unglücks gäbe es wahrscheinlich noch mehr Auflagen für die Veranstalter, aber der Weg des Individualbergsteigens würde wohl kaum wieder gestärkt.
Du bist selbst als Bergführer kommerzieller Gruppen im Einsatz. Wie löst du für dich diesen Zwiespalt auf, dass du einerseits Teil des Systems bist, andererseits aber auch die negativen Seiten siehst?
Es ist manchmal eine Gratwanderung. Wir als deutsche Veranstalter haben immer noch eine etwas andere Tradition. Die kommerziellen Expeditionen hierzulande sind ja aus Gemeinschaftsfahrten entstanden. Die Teilnehmer werden mehr als selbstständige Bergsteiger angesehen und müssen auch mit anpacken. Das ist bei amerikanischen oder auch vielen nepalesischen Anbietern mitunter ganz anders: Da wird man von vorne bis hinten an die kurze Leine genommen und hat nichts mehr zu melden.
In diesem Jahr hat du deinen achten Achttausender bestiegen, den Gasherbrum I im Karakorum. Wie schwer oder leicht ist dir das gefallen, oder anders gefragt: Hast du gespürt, dass der Zahn der Zeit auch an dir nagt?
Es war sehr anstrengend, wegen des vielen Schnees und weil wir nur zu zweit unterwegs waren. Die anderen Bergsteiger waren alle im Sturm des Vortags wieder abgestiegen. Gianpaolo (Corona) und ich waren die letzten im Hochlager und haben es einfach probiert. Es waren 13, 14 Stunden Stapfen durch tiefen Schnee. Dafür, dass es so anstrengend war, habe ich mich wirklich sehr gut gefühlt. Auch in den Tagen danach war ich nicht so ausgebrannt wie an manchen anderen Bergen zuvor.
Schauen wir nach vorn! Welche Ziele setzt du dir noch in deiner Bergsteigerkarriere?
Udo Jürgens sang ja: „Mit 66 Jahren ist noch lange nicht Schluss.“ Erst recht nicht mit 50! Ich habe schon noch einige Ziele. Ich habe mir auch keine Altersbegrenzung gesetzt. Ich schaue einfach, wie es mir aktuell geht und entscheide dann. Konkret plane ich für das Frühjahr 2019 noch einmal den Everest von der Nordseite aus (sein erster Versuch dort 2015 blieb erfolglos, weil der Berg nach dem Erdbeben in Nepal gesperrt wurde)– zunächst einmal als Bergführer, als Arbeitsauftrag. Vielleicht kann ich anschließend mit (dem Österreicher) Rupert Hauer – einem guten Freund, der dort eine andere Gruppe führt – noch selbst etwas am Berg unternehmen.
Ohne Flaschensauerstoff?
Ja, möglichst ohne.
Sind die 14 Achttausender noch ein Thema für dich?
Ich habe jetzt acht, es fehlen also noch sechs, das ist eine ganze Menge. Ich versuche in der Regel ja einmal pro Jahr einen Berg, und es geht auch nicht jedes Mal gut. Also bedeuten sechs ausstehende Achttausender noch einige Jahre. Ich weiß nicht, ob mir da nicht die Zeit ausgeht. Es interessiert mich schon, aber es gibt auch noch andere Dinge, die mich vielleicht sogar noch mehr reizen, z.B. eine anspruchsvolle Route an einem Achttausender zu begehen.
P.S.: Alix von Melle wird Luis im Frühjahr nicht zum Everest begleiten, sie ist in ihrem Job unabkömmlich.