Eine Geschichte
Ich habe im Blog darüber berichtet: Der Brite Peter Kinloch erreichte am 25. Mai den Gipfel des Mount Everest. Beim Abstieg verlor der 28-Jährige seine Sehfähigkeit und wurde immer schwächer. Zwölf Stunden lang kämpften Bergführer David O’Brien und drei Sherpas um das Leben ihres Gefährten. Dann musste Expeditionsleiter Dan Mazur die „schlimmste Entscheidung seines Lebens“ treffen. Er rief die Helfer zurück. Kinloch starb einsam auf 8600 Metern. War es eine „Tragödie“, wie die Zeitungen titelten? Ich gehe vorsichtig mit diesem Wort um. Jeder, der den Mount Everest besteigen will, muss das Risiko einkalkulieren, dass er nicht zurückkehrt. Und doch hat mich Peter Kinlochs Geschichte beschäftigt. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie er sich in seinen letzten Stunden gefühlt hat. Und ich habe angefangen zu schreiben. Keinen journalistischen Beitrag, sondern diese Geschichte.
Verdammt
Wie ruhig es plötzlich geworden ist. Nur noch das Lied des Windes, der über den Grat pfeift. Ich liege in meinem Schneeloch. Verdammt. Warum ich? Ich hatte Gott doch die Hand geschüttelt, auf dem Gipfel des Mount Everest, 8850 Meter hoch, an der Pforte zum Himmel. Hat er mich falsch verstanden?
Tanz auf der Kante
Ich lasse meine Gedanken zurückfliegen. Als ich dort oben am höchsten Punkt stehe, bin ich fix und fertig. Das schon, aber damit befinde ich mich in Gesellschaft. In den Augen der meisten anderen Gipfelstürmer sehe ich die Endorphine wirbeln. Doch die Euphorie beschränkt sich auf ihre Gesichter. Die Schultern hängen durch, signalisieren Erschöpfung. Das Leben tanzt auf der Kante. Es ist mir bewusst, aber auch schnuppe. Hey, ich stehe auf dem Dach der Welt, habe für einen Moment alles hinter mir, nein unter mir gelassen. Mein großer Lebenstraum ist in Erfüllung gegangen, das Ziel erreicht, auf das ich jahrelang hingearbeitet habe und das die letzten Monate meines Lebens vollkommen beherrscht hat. Wie gerne würde ich diesen magischen Augenblick in eine Dose packen, konservieren für den schnöden Alltag, der mich bald wieder einholen wird. Unweigerlich. Ich versuche, meine Sinne zu öffnen, um wie ein Schwamm das Glück aufzusaugen.
„Komm’, wir müssen los!“. David, unser Bergführer, lässt mich unsanft in der Realität landen. Natürlich hat er Recht, die Zeit drängt. Die Statistik lügt nicht: Die meisten Unfälle geschehen beim Abstieg, wenn Kraft und Konzentration nachlassen. Fast hätte ich die Gipfelfotos vergessen. Die Zeit muss sein. Ein paar Schnappschüsse noch, dann nichts wie los.
Lichtschalter
Wir sind noch nicht lange unterwegs. Wo kommen die Schlieren vor meinen Augen her? Ich stolpere. Die Sicht war vorher schon schlecht, hat sich etwa eine dichte Nebelbank über den Grat geschoben? Es dauert eine Weile, bis ich die bittere Wahrheit realisiere: Irgendetwas stimmt nicht mit meinen Augen. Ich werde doch wohl nicht schneeblind? Panik schnürt mir den Hals zu. Meine Gedanken rasen. Wir sind noch in der Todeszone! An der Aluminiumleiter am Second Step, der Felsstufe am Grat, weihe ich David ein, dass ich nicht mehr richtig sehe. Irgendwie gelingt es ihm, mich die heikle Stelle hinunterzulotsen. David informiert über Funk unseren Expeditionsleiter Dan, der im letzten Lager auf 8300 Metern auf uns wartet. Dan schickt drei Sherpas los, um mir zu helfen. Ich taumele weiter, erkenne nur noch Schemen. Dann wird es plötzlich dunkel. Als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Verdammt, ich bin blind! Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Ich sinke zu Boden.
Leere Ballonhülle
Ich bin doch erst 28 Jahre alt. Zu jung, zu stark, um hier zu sterben. Ich verdränge den Gedanken. Irgendwie werde ich schon herunterkommen. Ich rappele mich auf, stolpere ein Stück weiter. Verdammt, ich fühle mich so schlapp. Und diese Kälte, dieser Wind. Wieder sacke ich zusammen. Ich möchte schreien. Aber meine Angst lähmt meine Stimme – und meinen Körper. David beugt sich über mich, redet fortwährend auf mich ein, als drehe er tibetische Gebetsmühlen: „Weiter, los, weiter!“ Wieder versuche ich, alleine aufzustehen. Vergeblich. Hat mir der Sensenmann Gewichte in die Schuhe gepackt?
Die Sherpas sind eingetroffen. Mit vereinten Kräften bringen sie mich auf die Beine. Ein paar Meter schaffe ich, mehr nicht. Ich fühle mich wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen ist. Mein Verstand hat mich noch nicht im Stich gelassen. Ich fühle mich sogar wacher als zuvor. Vielleicht weil ich nichts mehr sehe und mich auf die anderen Sinne konzentriere. Meine Helfer versorgen mich mit reichlich Flaschensauerstoff, spritzen mir Dexamethason, ein Mittel gegen die Höhenkrankheit.
Verloren
Ich liege auf 8600 Metern. Verdammt, ich spüre meine Finger nicht mehr. Erfroren. Wie lange geht das jetzt schon? Sicher sieben, acht Stunden, ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr! Nur noch ausruhen, schlafen. Warum verstehen die anderen nicht, dass der Kampf verloren ist?
Auch wenn ich nichts sehe, weiß ich, dass längst die Nacht angebrochen ist. Die Kälte ist kaum zu ertragen. Ich werfe meine Wasserflasche weg, die Atemmaske. Ich will meine Ruhe!
Dans Stimme aus dem Funkgerät nehme ich nur noch entfernt wahr. Ich weiß, er wird die anderen zurückrufen. Er muss. Sonst hat er am nächsten Morgen fünf Tote zu beklagen. Ich höre die Sherpas beten. Die Zeit des Abschieds naht. Nun geht schon! Nein bleibt, lasst mich nicht alleine! Ich bin zu schwach, um zu sprechen. Zu schwach, um zu weinen. Ich spüre, dass sie um mich herumstehen. David umarmt mich, die Sherpas berühren meine Arme. Dann entfernen sie sich. Das Knirschen ihrer Schuhe im Schnee wird leiser, immer leiser – und verstummt schließlich.
Loslassen
Ich bin allein und, ja, verzweifelt, wütend. Nicht auf Dan, nicht auf David und die Sherpas. Sie haben getan, was in ihrer Macht stand. Stundenlang, ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit und Sicherheit. Verzweifelt bin ich, weil ich die Kontrolle verloren habe. Weil ich mich in das Unausweichliche fügen muss. Verdammt!
Ich denke an Gül, meine Verlobte. Wir wollten nach Belgien ziehen. Sie hatte Angst um mich. Ich habe sie beruhigt, vertröstet auf die Zeit nach dem Mount Everest. Gül, verzeihe mir! Ich stelle mir vor, ich läge nicht hier einsam in einem Schneeloch am Nordgrat, sondern in einer lauen Frühlingsnacht neben dir auf einer Wiese, den Sternenhimmel über uns. Liegt es an dieser Vision, dass ich nicht mehr friere? Eine wohlige Wärme breitet sich in meinem Körper aus. Ich streife meine Handschuhe und meine Mütze ab. Ich werde ruhig. Ich lasse los.