Wie ich den Großglockner nicht bestieg
„Es gibt viele Wege zu Gott, einer davon führt über die Berge“, steht auf der Gedenktafel, die direkt neben der Kirche in Kals in Osttirol an die Bergsteiger erinnert, die ihr Leben am Großglockner verloren haben. Mehr als 150 Namen sind dort eingraviert. Eigentlich vergleichsweise wenig, bedenkt man, dass Jahr für Jahr bis zu 5000 Menschen auf dem 3798 Meter hohen Gipfel stehen, an „guten“ Tagen (mit Aussicht) in Schlange. Mir war das bei meinem bisher einzigen Versuch nicht vergönnt. 2002, im Internationen Jahr der Berge, hatte ich mir unter anderem vorgenommen, innerhalb weniger Tage die Prestigeberge Österreichs zu erklimmen, den Großvenediger und den Großglockner, beide im Nationalpark Hohe Tauern gelegen, nur etwa 30 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt.
Im Morgengrauen auf den Großvenediger
Von der Traum- zur Fast-Alptraum-Tour
Teil eins, eine Mondscheintour zum Venediger, gelang perfekt. Keine Wolke zeigte sich am Himmel, als ich als Mitglied einer kleinen Gruppe, angeführt von einem erfahrenen Bergführer, kurz nach Sonnenaufgang den höchsten Punkt auf 3666 Metern erreichte. Noch am gleichen Tag fuhr ich hinüber nach Kals zu Füßen des Großglockner. Am nächsten Morgen stieg ich zur Stüdlhütte auf 2801 Metern auf. Dort traf ich einen Bergführer und eine dreiköpfige Familie aus Niedersachsen, die ebenfalls „Seine Majestät“, den Glockner, besteigen wollte. Als wir über das Ködnitzkees, einen spaltendurchsetzten Gletscher, zur 3454 Meter hohen Erzherzog-Johann-Hütte (auch Adlersruhe genannt) aufstiegen, schien die Sonne ihre glänzende Laune immer noch nicht verloren zu haben. Die Hütte war gut gefüllt, die Stimmung auf der höchstgelegenen Schlafstatt Österreichs gelöst. Die Bergführer sangen das Glocknerlied, ihre Kunden genossen die Bergromantik. Lediglich der Hüttenwirt wollte sich der allgemeinen Euphorie nicht anschließen, sondern warnte vor einem bevorstehenden Wettersturz. Er sollte Recht behalten.
Kälte, Wind, Wolken
Als wir früh am nächsten Morgen aufbrechen wollten, herrschte mitten im Sommer Winter: Über Nacht waren 30 Zentimeter Neuschnee gefallen. Das Thermometer zeigte minus fünf Grad Celsius, ein starker Wind blies, der Berg steckte in Wolken, die Sichtweite lag unter 100 Metern. Unser Bergführer meinte, wir könnten den Gipfel trotz des Wetterumschwungs erreichen. Ich legte die Steigeisen an und reihte mich als Letzter einer Vierergruppe ein. Vor mir gingen der Bergführer, dahinter aus der niedersächsischen Familie ein zwölfjähriger Junge und sein Stiefvater. Die Mutter des Jungen hatte es vorgezogen, in der Hütte auf uns zu warten. Eine weise Entscheidung, wie sich bald herausstellte. Bei eiskaltem, schneidigem Wind quälten wir uns über das bis zu 35 Grad steile Schneefeld des Glocknerleitl.
An solchen Tagen kann es sich am Gipfel des Großglockner stauen
Turnschuhe und Fahrradhandschuhe
Als wir mit unseren Steigeisen über vereiste Felsblöcke dem Kleinglockner, dem Vorgipfel des Großglockner, weiter entgegenklettern wollten, sackte der Junge plötzlich in sich zusammen. Als ich aufschloss, traute ich meinen Augen nicht: Der Junge trug statt Bergschuhen einfache Turnschuhe, an denen die Steigeisen natürlich nicht vernünftig hielten. Seine Hände steckten in dünnen Fahrrad-Handschuhen. Der Zwölfjährige zitterte vor Kälte, seine Lippen waren blau gefärbt. Der Stiefvater redete ununterbrochen auf ihn ein: „Es ist doch nicht mehr weit. Das schaffst du schon. Du willst doch nicht so kurz vor dem Gipfel aufgeben.“ Der Bergführer stand schweigend dabei. Da platzte mir der Kragen. Ich machte den beiden klar, dass ich es für unverantwortlich hielte, mit dem Jungen bei diesen Verhältnissen auch nur einen Meter weiter aufzusteigen. „Ja, vielleicht sollten wir wirklich umkehren“, lenkte der Bergführer ein. Der Stiefvater blieb zunächst uneinsichtig, realisierte aber, dass er am kürzeren Hebel saß.
Krass unterschätzt
Wir stiegen ab, erst zur Adlersruhe, dann hinunter zur Stüdlhütte. Als wir dort eintrafen, steckte der Gipfel immer noch in einer dichten Wolke. „Wir hätten es doch versuchen sollen“, beharrte der Stiefvater des Jungen immer noch. Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Wie konnte er das Leben seines Kindes so leichtfertig aufs Spiel setzen? Bis heute kann ich jedoch ebenso wenig verstehen, wie der Bergführer zulassen konnte, dass der so kärglich ausgerüstete Junge mit zum Gipfelversuch startete.
„Der Berg wird von zahlreichen Bergsteigern krass unterschätzt“, heißt es in einer Broschüre über den Großglockner, die ich jetzt während unseres Skiurlaubs in Osttirol in die Finger bekam. Und über Wetterstürze steht dort: „Der Schwierigkeitsgrad auf den Felsanstiegen erhöht sich schlagartig.“ Erst im vergangenen November bewahrheitete sich das wieder dramatisch. Drei polnische Bergsteiger konnten nach einem Wettersturz nur noch tot geborgen werden. Sie waren erfroren. Auch ihre Namen werden wohl bald auf der Kalser Gedenktafel zu lesen sein. „Es gibt viele Wege zu Gott, einer führt über die Berge.“