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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Wie Sex ohne Höhepunkt?

Aufwärts

Beim Bergsteigen gibt es nach landläufiger Meinung kein Unentschieden. Nur oben oder unten, Sieg oder Niederlage, Erfolg oder Scheitern. Als ich nach meinem Gipfelversuch am Putha Hiunchuli, der auf 7150 Metern endete, über den Gletscher zurück zum Basislager lief, begegnete mir ein Sherpa. „Summit?“, fragte er. Gipfel? Als ich den Kopf schüttelte und gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, war er bereits an mir vorbeigelaufen. Und ich trug den Stempel „Verlierer“ auf der Stirn.

 

„Tüpfelchen auf dem i“

Blanker Willen

Es war die drastischste Reaktion, die ich erlebte. Doch in abgeschwächten Varianten wiederholt sie sich auch jetzt, drei Wochen danach, immer wieder. Die Mehrheit denkt eben in Gipfeln. Aber ist Bergsteigen wirklich nur Bergbesteigen? War das, was ich am Putha Hiunchuli erlebt habe, wie Sex ohne Höhepunkt? „Es wäre doch das Tüpfelchen auf dem i gewesen“, hat Herbert, unser Expeditionsleiter, gesagt, als wir über meinen verpassten Gipfel gesprochen haben.

Tatsächlich habe ich mich in den ersten Tagen nach dem missglückten Versuch gefühlt, als hätte ich einen Wettkampf verloren. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto mehr realisiere ich, was ich gewonnen habe: Ich habe viel über meinen Körper und meinen Geist gelernt, weiß jetzt, was ich beiden zumuten kann und was nicht.

Auf 7000 Metern

Auf über 7000 Metern erfuhr ich ganz ohne Drogen, wie es ist, scheinbar körperlos nur noch aus Willen zu bestehen und Stimmen aus dem Nichts zu hören. Ich erlebte, wie sich mein Körper eindrucksvoll zurückmeldete: als geballte Schwäche im Abstieg. Ich war so dehydriert, dass ich mich wie ein Verdurstender in der Wüste fühlte. Ich habe deshalb Schnee gegessen und es mit sofort einsetzendem Sodbrennen bezahlt, Eiszapfen vom Fels gebrochen und gelutscht, als wäre es Champagnereis.

Mindestens unentschieden

Belohnt

Ich hege keinen Groll gegen den Putha Hiunchuli, habe keine Rechnung mit ihm offen und fühle mich auch nicht verpflichtet, Ersatzgipfel zu besteigen. Der Siebentausender in Nepal hat mir seinen höchsten Punkt verwehrt und mich doch beschenkt: mit einem großen Abenteuer, das ich bis auf ein paar Frostbeulchen an den Fingerspitzen unbeschadet überstanden habe. Das ist doch mindestens ein Unentschieden.

Und was den Sex ohne Höhepunkt anbetrifft: Wer über 7000 Metern überhaupt noch einen Gedanken an körperliche Liebe verschwendet, muss über eine galaktische Libido verfügen – oder vom seltenen tibetischen Raupenkeulenpilz (Cordyceps sinensis) gekostet haben. Das „Viagra des Himalaya“, das auf dem Schwarzmarkt bis zu 24.000 Euro pro Kilogramm bringt, wird zwar in der Gegend um den Putha Hiunchuli geerntet – jedoch im Frühling, nicht im Herbst. Ich kann also nicht mitreden.

Datum

9. November 2011 | 12:36

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