Galerie Polistar
Ein Nachbar montiert Kronleuchter, ein anderer ist Buchbinder: Die Galerie Polistar liegt in der vierten Etage eines Iş Hanı, eines rein gewerblich genutzten Gebäudes, im Stadtteil Tophane. Das erinnert mich stark an das Westberlin meiner Studienzeit in den 1980er Jahren an der damaligen HdK Berlin (Hochschule der Künste, heute UdK, Universität der Künste) und teilweise an die Nach-Wendezeit im Osten Berlins, als sich Galerien und Ateliers in der Nachbarschaft alteingesessenen Gewerbes ansiedelten.
Tophane war bis vor wenigen Jahren ein vergessenes und heruntergekommenes Altbauviertel im Bezirk Beyoglu und ist heute eines jener inzwischen zahlreichen Viertel, die sich in einem rasanten Umbruch befinden – vom traditionellen Gewerbe- und Wohnviertel zum Kunst- und Szeneviertel. Und „rasant“ heißt im Vergleich zu Deutschland „richtig schnell“ – denn das allgemeine Tempo dieser Stadt betrifft auch die Geschwindigkeit ihrer eigenen Veränderung. Erst hier und nicht in Berlin ist mir klar geworden, wie sehr eine Stadt ein sich ständig verändernder Organismus ist – unaufhaltsam …
Magnet für unterschiedliche Kunstliebhaber
Eröffnet wurde die Galerie Polistar im Dezember 2011 und ihre Arbeit stößt nicht nur auf großes Interesse in der Istanbuler Kunstszene, sondern auch in der unmittelbaren Nachbarschaft – wie bei dem Buchbinder und dem Kronleuchter-Monteur, die zu den Ausstellungseröffnungen kommen oder bei Murat dem Müllsortierer, der einen kleinen Raum auf der Dachterrasse des Gebäudes bewohnt und hin und wieder Freunde von der Straße mitbringt, denen er die Ausstellungen zeigt. Soviel nachbarschaftliche Harmonie ist nicht unbedingt selbstverständlich, hat es doch vor einiger Zeit vor einer anderen Galerie des Viertels einen Überfall gegeben. Betroffen waren Besucher einer Ausstellungseröffnung gegeben, die sich weintrinkend auf dem Gehweg vor der Galerie aufhielten.
Doch das Zielpublikum von Polistar ist nicht in erster Linie die unmittelbare Nachbarschaft in Tophane. Bei den Eröffnungen treffe ich junge deutsche Künstler, die ganz oder auf Zeit, mit und ohne Stipendien in Istanbul leben und auf junge türkische Künstler aus Deutschland und aus Istanbul, Kuratoren von dort wie von hier, Kunstliebhaber, Sammler, Journalisten … „Polistar“ eben – die vielfältigsten und unterschiedlichsten Sterne und Planeten in einem gemeinsamen Universum der Kunst.
Künstlergespräche als wesentlicher Teil der Rezeption
Zum Zeitpunkt meines Besuches ist die Galerie allerdings „leer“, das heißt ohne Besucher und Ausstellung, denn ich bin genau in die Woche von Abbau und Aufbau zwischen zwei Schauen hineingeplatzt: Gözde Ilkins Installation, in der sie „Schule“ als Metapher für autoritäre Prägung in autoritären Systemen einsetzt, ist abgebaut. Die neue Ausstellung von Natalie Czech ist noch im Aufbau. Natalie Czech arbeitet mit Fotografie und Texten, deren verborgene Poesie sie freilegt. So unterschiedlich die Ausstellungen und Positionen der Künstler auch sind, die Ausstellungstitel sind alle gleich: METODİK ÇALIŞMALAR / METHODICAL INQUIRIES. Kristina Kramer hat für den Ausstellungszyklus mit dem Leiter des Künstlerhauses Stuttgart, Adnan Yildiz, und der als freie Kuratorin in Berlin lebenden Övül Durmusoglu zusammengearbeitet. Das Konzept könnte man auch als Gruppenausstellung in Form von Einzelschauen oder besser noch als Atelierbesuche in Form von Galerie-Ausstellungen betrachten. Wesentlicher Teil dieses diskursiven Ansatzes sind Künstlergespräche und entspannt geführten Diskussionen, die von Arbeitsgruppen vorbereitet werden und am Eröffnungsabend und weiteren Terminen stattfinden.
So hat sich in diesem Iş Hanı mit Polistar also weniger eine Galerie im klassischen Sinne angesiedelt – Nachbar des Buchbinders und Lüsterklempners ist eher ein Laboratorium für Kunst im Beuys’schen Sinne.
Der Sog der lebendigen Stadt
Kristina Kramer kam bereits vor über acht Jahren nach Istanbul – im Rahmen von Recherchen für ihre Magister-Arbeit über Zeitgenössische Kunst in Istanbul. Und dann erging es ihr wie mir und vielen anderen hier. Die Projekte kamen ‚auf ihre eigenen Füße‘, lösten einander ab und die Jahre in Istanbul addierten sich nicht als Resultat einer grundsätzlichen Entscheidung für diese Stadt, sondern Istanbul hatte sich für uns entschieden. Bei Kristina Kramer folgte auf Recherchen im Rahmen eines Praktikums Mitarbeit bei der von Vasıf Kortun und Charles Esche kuratierten Istanbul Biennale 2005 bevor sie später in unterschiedlichen Projekten als Kuratorin tätig war.
Jene Istanbul Biennale 2005 war unter anderem übrigens auch für Tophane bedeutend: einer der dezentralen Ausstellungsorte der Biennale war ein leerstehendes ehemaliges Tabak-Depot in unmittelbarer Nachbarschaft des heutigen Standorts von Polistar. Mit dieser Ausstellung hatte die Kunst erstmals ihren Fuß nach Tophane gesetzt.