Buchhandlung Mühlbauer
Wenn ich mich von der Galerie Polistar aus nach rechts wende und die Hoca Ali Sokak bergauf und immer weiter gehe, erreiche ich nach cirka 300 Metern den Tünel-Platz mit seinem dichten Gewimmel von Menschen.
„Tünel“, das ist ein Ende und ein Anfang zugleich: Endhaltepunkt der zweitältesten Untergrundbahn-Linie der Welt, der Tünel-Bahn, die zwischen dem ehemaligen Hafenviertel am Goldenen Horn und dem nach ihr benannten Tünel-Platz im ehemaligen Minderheitenviertel „Galata“ pendelt. Und zugleich ist der Tünel-Platz Ausgangspunkt der legendären İstiklal-Straße, die ursprünglich einmal als „Grand rue de Pera“ dieses Quartier durchquerte.
Was für Berlin einst die Friedrichstraße war, war „die Pera“ einst für Istanbul: Flaniermeile mit Theatern, Passagen und noblen Geschäften, mit den Cafés „Marquiz“ oder „Lebon“, mit Straßenbahn und Droschkenverkehr. Die Straße und die umliegenden Gassen sind heute wieder Hotspot des Istanbuler Kultur- und des Nachtlebens. Die kleine Straßenbahn ist inzwischen wieder in Betrieb und die Straße selbst eine Fußgängerzone.
Mein Aufstieg zum Tünel führt an den schwer verschlossenen Eisentoren der Deutschen Schule vorbei. Heute komme ich hier nicht rein – früher musste ich da rein, weil ich dort Schüler war. Wenn wir damals allerdings Freistunde hatten oder schwänzten, trieben wir uns lieber in den Imbiss-Büffets am Tünel oder den Plattenläden einer benachbarten Gasse herum – oder wir gingen zu „Mühlbauer“.
Die türkisch-deutsche Buchhandlung Mühlbauer befindet sich immer noch unmittelbar neben dem schwedischen Generalkonsulat am Anfang der İstiklal. Mühlbauer ist einer der ganz wenigen Ankerpunkte für mich, an denen ich mir immer wieder deutlich machen kann, dass diese Stadt, durch die ich mich heute bewege, tatsächlich dieselbe ist, wie die, in der ich meine Schulzeit verbracht habe.
So sehr sich Istanbul teils bis zur Unkenntlichkeit verändert hat und nach wie vor rasant verändert, bei Mühlbauer sieht es aus „wie immer“ – die breite Holztreppe, auf der wir als Kinder saßen und Micky-Mouse-Hefte lasen und die Hefte eher zerknitterten, statt sie zu kaufen, führt immer noch ins Obergeschoss und die kleinen Reclam-Bändchen stehen noch im selben Regal wie damals. Das Angebot selbst ist natürlich aktuell.
Die Buchhandlung ist für die Schüler der umliegenden deutschsprachigen Schulen die einzige Bezugsquelle in Istanbul für deutschsprachige Lehrbücher, insbesondere im Bereich „Deutsch als Fremdsprache“, sowie für aktuelle deutsche Presse und für deutsche Literatur. Außerdem hält das Sortiment so ziemlich alles bereit, was an türkischer Literatur in deutscher Übersetzung sowie an Büchern über die Türkei und vor allem über Istanbul auf Deutsch erschienen ist.
Was es für eine unglaubliche Anzahl an Büchern zu dieser Stadt gibt, wird mir besonders immer hier deutlich, wo diese vielen Publikationen schön nebeneinander aufgereiht sind. Es scheint annähernd jeder, der sich länger als für die Dauer eines Urlaubs in Istanbul aufhält, darüber ein Buch zu verfassen. Aber andererseits – ich schreibe hier ja auch über Istanbul und wer weiß schon, ob ich hier nicht gerade Anlauf nehme …
Heute betreiben Thomas und Joseph Mühlbauer das Geschäft in zweiter Generation. Gegründet hat es ihr Vater bereits 1955 als er mit eigentlich anderem Reiseziel auf der Durchreise war. Aber, wie bereits gesagt, es scheint mir, dass diese Stadt sich viele ihrer Bewohner selber aussucht …
Zu internationaler Berühmtheit kam die Buchhandlung zudem durch den Film „Auf der anderen Seite“ von Fatih Akın: Einen türkisch-stämmigen Germanistikprofessor treiben die Wirrungen der Filmhandlung nach Istanbul. Durch die Schuld seines Vaters war zuvor dessen Geliebte zu Tode gekommen und nun sucht der Germanist in Istanbul nach deren Tochter. Und dabei stößt er auf die deutsche Buchhandlung, in der er nicht einkauft, sondern die er gleich komplett erwirbt. Lage und Räumlichkeit waren im Film zwar verändert, aber das Interieur war original – original „Mühlbauer“.
Von Mühlbauer zurück ins laute Getümmel der İstiklal: Diese Fußgängerzone darf man sich nicht vorstellen, wie die zahlreichen, meist menschenleeren Fußgängerzonen in deutschen Innenstädten. Auf der İstiklal ist es in der Regel so voll und gedrängt, wie in der Berliner U-Bahn im Berufsverkehr zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags – und das Ganze muss man sich dann noch gehend vorstellen … Menschenleer ist normalerweise keine der Istanbuler Straßen. Aber, was Gedränge betrifft, ist die İstiklal das Non plus Ulta.
Wenn mich Istanbuler Freunde in Berlin besuchen und wir gehen durch die berühmten und „belebten“ Straßen, wie Friedrichstraße, Oranienburger Straße oder schlendern über die „Linden“ oder den Ku’damm und ich erkläre ihnen stolz, das seien unsere Flaniermeilen, ist immer ihre erste Frage: „Und wo sind die Menschen?“